Commons und die Frage der Verhältnisse
Besprechung von »Capitalism and the Commons – Just Commons in the Era of Multiple Crises« hg. von Andreas Exner, Sarah Kumnig und Stephan HochleitnerAndreas Exner, Sarah Kumnig und Stephan Hochleitner (Hg.)
Capitalism and the Commons – Just Commons in the Era of Multiple Crises
Mit Texten von: Sheri Avraham, Patrick Bond, Andreas Exner, Silvia Federici, Yoonai Han, Stephan Hochleithner, Birgit Hoinle, Niki Kubaczek, Sarah Kumnig, Seon Young Lee, Keir Milburn, Meron Okbandrias, Marit Rosol, Bertie Russell, Barbara Stefan
Abingdon / New York: Routledge, 2021
214 Seiten, 45,62 Euro
Der bereits 2021 erschienene Sammelband Capitalism and the Commons – Just Commons in the Era of Multiple Crises
versteht sich nicht als ein weiterer zeitgeistiger Reader in Sachen Commons-Diskurs. Die versammelten Texte eint die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen und politischen Relevanz der Gemeingüter in Theorie und Praxis. Die Beiträge changieren zwischen Versuchen, theoretische Grundlagen zu hinterfragen, neu zu justieren oder auch zu erweitern und einem aufgefächerten Reality-Check an Hand der Vorstellung und Diskussion von Fallstudien in unterschiedlichsten Kontexten – geographisch, sozio-ökonomisch und politisch. Der Blick, der ebenso auf den globalen Norden wie auf den globalen Süden gerichtet ist, ermöglicht eine ausgewogene globale Perspektive, durch welche die Fallstricke einer stark westlich geprägten bzw. eurozentristischen Commons-Diskussion weitgehend vermieden werden. Die Verbindung von theoretischer Positionierung und Fallstudien u. a. aus Südafrika, Kolumbien, Österreich, Deutschland, Südkorea und der Demokratischen Republik Kongo erlaubt zudem eine höhere Anschaulichkeit. Die Beiträge befassen sich mit urbanen, peri-urbanen und ländlichen Räumen. Der gesamtstädtische bzw. der regionale Maßstab werden meist mit in den Blick genommen, um so die Frage nach der Systemrelevanz gegenhegemonialer Projekte stellen zu können.
Längst kennt der Commons-Diskurs unterschiedliche Strömungen, einen Mainstream und davon deviante Sichtweisen. In Capitalism and the Commons geht es dezidiert darum, den Commons-Diskurs mit anderen Denktraditionen, wie der marxistisch grundierten Analyse der sozio-ökonomischen Verhältnisse und feministischen Perspektiven zusammenzuführen. Obwohl Überschneidungen und Synergien auf den ersten Blick auf der Hand liegen mögen, zeigen sich bei näherer Betrachtung auch theoretische Dissonanzen, die einer intensiven Denk- und auch Praxisarbeit bedürfen, um ein Zusammendenken und strategische Allianzen im Denken und Handeln möglich erscheinen zu lassen. Dabei wird der zeithistorische Kontext betont: Die ökonomische und ökologische ›Polykrise‹, die spätestens mit der global wirksamen Finanzkrise von 2008 sichtbar und manifest wurde, markierte auch – wohl nicht ganz zufällig – den Beginn einer Hochkonjunktur der Debatte um Commons, Allmenden und Gemeingüter.
Die Eigentumsfrage stellt sich auch im Rahmen der Organisation und Verankerung von Commons, wird dort aber in Theorie und Praxis unterschiedlich beantwortet. Sarah Kumnig und Marit Rosol betonen in ihrem Beitrag angesichts gestiegener Landpreise nach der Finanzkrise 2008 die noch dringliche Notwendigkeit, Strategien für einen kollektiven Zugang zu Grund und Boden zu entwickeln. Können Commons als Gemeingüter, die konventionelle Privateigentumsverhältnisse konterkarieren, Keimzelle einer Revolution der Verhältnisse sein? Diese Frage taucht im Band implizit oder explizit immer wieder auf. Kumnig und Rosol führen das Beispiel mehrerer Genossenschaften von Agrarland in Deutschland an, die nach Ankauf von Ackerland dieses kostengünstig an Biobauern und Biobäuerinnen weitervermieten. Diese Form der Allmende wird innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems und existierender Eigentumsverhältnisse realisiert, fügt sich also als Einschluss ins System ein. Ein anderes Projekt geht weit über diese Form der Co-Existenz hinaus: Das urbane Landwirtschaftskollektiv SoliLa in Wien hat Land besetzt. Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion werden kollektiv betrieben und nach den Bedürfnissen aller Beteiligten in Bezug auf Herstellung und Konsumption organisiert. Es geht dem Kollektiv nicht nur um eine alternative Praxis innerhalb des Systems, sondern um eine Infragestellung des Privateigentums selbst.
Ein zentraler Bezugspunkt des Commons-Diskurses ist der Rational-Choice-Ansatz, den Elinor Ostrom (1933–2012) in ihrem Buch Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (1990) entwickelt hat. Die Wirtschaftswissenschaftlerin betrachtete die Schaffung von Gemeingütern letztlich als das Ergebnis von einzelnen Akteur:innen, die im Zusammenschluss rational handeln, um ihren eigenen ökonomischen Nutzen zu maximieren. Andreas Exner weist darauf hin, das Ostroms neoklassische Vorstellung vom menschlichen Subjekt sich als anschlussfähig an neoklassische Wirtschaftstheorien erwiesen habe. Exner bringt als radikalere Alternative u. a. die ›Schenkökonomie‹ des französischen Soziologen Marcel Mauss ins Spiel, in der auch (archaische) Formen des Tausches und der Gabe als grundlegende Handlungsformen in der Moderne stark gemacht werden.
Für Silvia Federici ermöglichen die Commons theoretisch und praktisch Modelle sozialer Kooperation jenseits der Dichotomie von privat und öffentlich. Die politische Philosophin, die u. a. lange in Afrika gelebt, geforscht und unterrichtet hat, beschreibt die Relevanz von Gemeingütern im Rahmen der Frauenbewegungen in Afrika. Schon in den 1990ern begannen Initiativen entgegen der dem Gewohnheitsrecht entstammenden Landbesitzsysteme Flächen öffentlich, kollektiv und gemeinwohlorientiert zu nutzen. Heute konstatiert Federici eine weitgehende Krise des Kommunalismus in Afrika auf Grund vielfältiger Spaltungsphänomene in der Gesellschaft: unter den kommunalen Stakeholdern, zwischen Männern und Frauen und leider auch unter Frauen selbst.
Schlussendlich stellt sich die Frage, ob Modelle der Organisation der Commons bzw. der Praxis des Commonings mehr sein können als Inseln innerhalb der marktwirtschaftlich geprägten Logik bzw. der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Tragen sie das Potenzial in sich, eine systemische Alternative zur aktuellen Wirtschaftsform darzustellen und gar Wege zur Überwindung derselben aufzeigen? Keir Milburn und Bertie Russell setzen sich in ihrem Artikel mit Lefebvres Theorie der Autogestion (Selbstverwaltung) und dem Recht auf Stadt auseinander. Sie plädieren in kritischer Distanz und gleichzeitig im Anschluss an den undogmatischen Philosophen dafür, für eine Politik der Commons zu argumentieren, die innerhalb, gegen und jenseits des Staates agiert. Der Pluralismus des Engagements und die Gleichzeitigkeit von emanzipatorischen Versuchsanordnungen im Bereich der Commons erscheint zeitgemäß. Capitalism and the Commons – Just Commons in the Era of Multiple Crises erweist sich so in der Zusammenschau der Texte als ein essenzieller Beitrag zur dringend notwendigen Politisierung des Commons-Diskurses, ohne sich in Grabenkämpfe und Nabelschau zu verlieren.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.