Peter Leeb

Peter Leeb ist Aktivist bei FRISCH - Freiraum Initiative Schmelz und lehrt am Institut für Kunst und Architektur. Er ist Architekt und Partner von NURARCHITEKTUR in Wien.


Ein nackter Mann läuft über ein Feld. In seinen Händen hält er zwei bügelartige Gegenstände. Am Ende dieser zwölfteiligen Fotodokumentation werden die beiden Bügel einem unter freiem Himmel vorgefundenen Fauteuil als Armlehnen eingepasst. Der Mann setzt sich, alles passt. Die Aktion IX ist Teil von Treffen auf dem Feld, einer Veranstaltung der Gruppe Missing Link, die im Sommer 1972 im burgenländischen Trausdorf stattfindet, und welche eine wesentliche Arbeitsweise der Gruppe auf den Punkt bringt: um zu einer »nicht normativen Gestaltung der Wirklichkeit« zu gelangen, bedarf es der »Bewusstmachung von Verhaltensmustern«. So werden alltägliche Handlungen und Gegen­­stände im Rahmen von zehn Aktionen bzw. Versuchsanordnungen einer kritischen Prüfung unterzogen. Als theoretischer Unterbau dienen Kerngedanken der Frank­furter Schule (etwa die Sinnentleerung und Manipulierbarkeit von Verhaltensweisen in der Konsumgesellschaft), Jane Jacobs Urbanismus-Kritik und Erving Goffmans Standardwerk Verhalten in sozialen Situationen.
       Im Herbst 1970 schließen sich Angela Hareiter, Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz zu Missing Link zusammen, der nach Haus-Rucker-Co, Coop Himmelblau und Zünd-Up vierten Architekturgruppe, die sich im anarchischen Geist aufmacht, die Grenzen der Disziplin auszuloten, um sie dann konsequent zu erweitern. Der Name ist Programm: »Missing Link is present where essential factors are overlooked« – so eine frühe Selbstdefinition. Die Protagonist*innen kennen sich vom Architekturstudium an der Technischen Hochschule Wien, wo sie in Karl Schwanzer einen aufgeschlossenen Geist und großzügigen Unterstützer finden, der die herrschende Architekturlehre liberalisiert und experimentelles Arbeiten nicht nur duldet, sondern auch schätzt. Angela Hareiter, die einzige Frau in einer damals von Männern dominierten Szene, kann bereits auf internationale Veröffentlichungen ihrer Arbeiten und auf Auslandserfahrung (New York 1969, Summersessions in London 1970) zurückblicken. Zusammen mit Adolf Krischanitz, der sich von seinen Erfahrungen im Paris des Mai ’68 für die hiesige Hochschulpolitik inspirieren lässt und Otto Kapfinger, dem begnadeten Zeichner, ist die Gruppe für die kritische Neubewertung der Architektur gut aufgestellt.
       Das Wiener Museum für Angewandte Kunst zeigt mit MISSING LINK – Strategien einer Architekt*innengruppe aus Wien die nach wie vor aktuelle Arbeit der Gruppe in einer umfangreichen wie beeindruckenden Ausstellung, die sich auf eingehender Sichtung und Aufarbeitung des 2014 erworbenen Vorlasses sowie auf seitdem erfolgten Ankäufen und Schenkungen gründet. Sebastian Hackenschmidt (Kustode MAK) und Anna Dabernig (Mitarbeiterin im Team von Adolf Krischanitz) als Beraterin haben eine an nationalen und internationalen Querverweisen reiche und einleuchtende Schau (angenehmes Bild-Objekt-Text-Verhältnis) kuratiert, die einen Blick in eine Zeit österreichischen Architekturschaffens bietet, in der die Gegen­wart eine vielversprechende Zukunft hatte. Besondere Erwähnung verdient der in englischer und deutscher Sprache verfasste Katalog, der gute Chancen hat, das Standardwerk über die Arbeit von Missing Link zu werden. Die ausgesprochen übersicht­liche Gestaltung der Ausstellung erfolgte durch Claudia Cavallar und Lukas Lederer, die unter Verwendung roher Gipskartonplatten, großer Lochblechflächen sowie einfacher Tisch­vitrinen aus Holz sensibel und angemessen auf Raum und Werk reagiert haben.
       Missing Link entwickelt über unterschiedliche Medien (Zeichnung, Gouache, Collage, Fotografie, Objekt, Performance, Film und Text) ein Architekturverständnis, das sich in der Mitte des Lebens positio­niert. Dabei dienen Literatur und bildende Kunst als Inspiration, anthropologische, philosophische und soziologische Erkenntnisse als Grundlage und der virtuose Einsatz der erwähnten Medien als Kommunikationsmittel, um die zahlreichen Baustellen der Disziplin in Angriff zu nehmen. Mensch­liches Verhalten, Material und Technik, Möbel, Wohnen, Renovieren, Stadterneuerung, Städtebau, Landschaft, Umwelt, Ökologie, Geschichte und Utopie – von allen Gruppen aus der Zeit ist Missing Link diejenige, die sich am meisten auf (brauchbare) Forschung in der Architektur versteht. Darin liegen Ver­dienst und nach­wirkende Bedeutung der insgesamt sehr anspruchsvollen, aber zugänglichen Arbeiten.
       Die meisten Arbeiten haben einen starken Wienbezug, alle sind immer lokal ›verortet‹. Das beginnt mit Arbeiten, die noch an der Technik entstehen, wie etwa Goldenes Wienerherz (1970) einer mobilen Lehr-/Lern-/Spiel-Maschinerie als klimati­sierter Zone im öffentlichen Raum (Aufgabenstellung war ein Lehrinstitut), welche minutiös konstruiert als axonome­trische Bleistiftzeichnung auf zwei Blättern zu sehen ist. Oder aber Sia con alt (1970/71) ein Vorschlag, der sich mit dem damals überwiegend problematischen Zustand der Wiener Gründerzeithäuser sowohl in praktischer als auch in organisatorischer Weise auseinandersetzt.
       Der Beitrag für die Wanderausstellung Die Straße – Form des Zusammenlebens, die 1973 im Museum des 20. Jahrhunderts Station macht, stellt eine eingehende Untersuchung räumlicher, soziologischer und verkehrstechnischer Eigenheiten der Kreuzung von Gürtel und Gumpendorfer Straße dar, die unter dem Titel Via trivialis – Feinbild einer Wiener Straße in Bild, Zeichnung und Text veröffentlicht wird. Dass die Wahl der Gruppe auf diese Straße und nicht etwa auf die bekanntere Ringstraße fällt, zeigt eine Herangehensweise, welche die Stadt als ein Ganzes versteht. Die seit Le Corbusier in Ungnade gefallene Typo­logie der Straße erfährt durch diese Studie eine Neubewertung: Stadtplanung besteht demnach nicht nur in funktionaler Ver­kehrs­­planung, sondern soll den Menschen soziale Erfahrungsräume und Möglich­keiten zur kreativen Entfaltung bereitstellen. Neben genauen Beobachtungen vor Ort spielen die Schriften von Jane Jacobs, James Joyce (Ulysses) und Ludwig Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen) eine wesentliche Rolle zur Erstellung der Studie. Berührend sind hier die minu­tiö­sen Exzerpte der verwendeten Literatur, die über die Jahre von Otto Kapfinger verfasst werden. Sie belegen einen authentischen Hunger nach literarisch-theoretischer Fundierung bzw. Begleitung der architektonischen Tätigkeit. Für den von Coop Himmelblau organisierten Supersommer 1976 am Wiener Landparteienplatz (heute: Flohmarkt-Platz) gegenüber von Otto Wagners Majolika-Haus wird die Geschichte der sogenannten ›Strotter‹ (im Kanalsystem wohnende Menschen) anhand einer historischen Dokumentation in einem dunklem, zum Pavillon vergrößerten Hausmeisterhut gezeigt. Im Asyleum, so der Titel der Aktion, wird eine Schattenseite der ›goldenen‹ Wiener Moderne an diesem spezifischen Ort sichtbar gemacht.
       Mit den Wiener Typen (1977) beginnt die Beschäftigung mit der Tradition der Wiener Gemeindebauten, die 1969 durch Oswald Mathias Ungers als Wiener Superblocks erstmals architekturgeschichtliche Relevanz erfuhren. Die Annäherung zur gebauten Architektur hat die Teilnahme an einem Wettbewerb für das Rennweg-Areal zur Folge, der vor allem nach sozialem Wohnungsbau verlangt. So werden Grund­risse, Höfe, Ecken, kurz: eine Typologie dieser emblematischen Wohnform untersucht und auf großen Blättern dar­gestellt. Das führt schließlich zum Entwurf eines idealen ›Wohnhofs‹. Die umschauende Praxis von Missing Link zeigt sich hier auch in der Bandbreite des Untersuchungsgegenstands: Architektur­typologien werden ergänzt durch gezeichnete Personen-Typen, den Repräsentant*innen des Wiener Charmes. Diese Arbeit ergibt in der Folge die umfangreichen Wiener Studien (1978) die neben weiteren typischen Elementen (Türen, Tore, Ecken, Gruppierungen und dergleichen), die Wiener Werkbundsiedlung und schließlich auch Wiener Kaffeehäuser zum Gegenstand haben. Sämtliche Bereiche werden akribisch untersucht und virtuos in teils großformatigen, teils kataloghaften Zeichnungen dargestellt. Programmatische Texte begleiten diese so wertvolle Arbeit, die es in ihrer Gesamtheit versteht, das Ortsspezifische dieser Stadt kritisch herauszuarbeiten und ihr so eine Kultur der historischen Kontinuität anzubieten. Die Zeichnung Flaggschiff (1978) mit dem Karl-Marx-Hof als an der Mole vertäuter Ozeandampfer ruft in poetischer Manier ein Lieblingsthema der Moderne in Erinnerung. Allerdings: das Tau kann gelöst werden, das Schiff kann Fahrt aufnehmen, die Arbeiten von Missing Link sind immer noch aktuell.
       Missing Link besteht nach dem Ausscheiden von Angela Hareiter 1974 noch bis 1980 bzw. in Zusammenarbeit zwischen Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz noch bis Mitte der 1980er Jahre. Angela Hareiter ist in den Bereichen der Mode, des Designs und als Film-Set-Designerin erfolgreich. Adolf Krischanitz ist ein einflussreicher bauender Architekt. Otto Kapfinger, dem ich eine wunderbare Führung durch die Schau verdanke, ist der Doyen der österreichischen Architekturkritik.


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