Das Ende eines Dogmas. Die Funktionale Stadt revisited
Besprechung von »Atlas of the Functional City« von Evelien van Es, Gregor Harbusch, Bruno Maurer, Muriel Perez, Kees Somer und Daniel Weiss (Hg.)Die Charta von Athen, 1943 von der französischen CIAM-Gruppe publiziert, gilt als Manifest der Funktionalen Stadt. Die darin festgeschriebene Funktionstrennung in Verkehr, Wohnen, Arbeiten und Freizeit, wird bis heute für die Fehlplanungen der Nachkriegszeit verantwortlich gemacht. Es ist das große Verdienst der HerausgeberInnen Evelien van Es, Gregor Harbusch, Bruno Maurer, Muriel Pérez, Kees Somer und Daniel Weiss, den Fragestellungen und Diskursen des 1933 stattfindenden legendären vierten CIAM-Kongress an Bord der Patris zwischen Marseille und Athen nachzuspüren und damit endlich ein differenziertes Bild der Ereignisse zu vermitteln.
Alle AutorInnen setzten sich intensiv mit den zum Großteil am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich vorhanden CIAM-Archivalien auseinander. Die Beiträge von Enrico Chapel und Vincent van Rossem stellen die grafischen Mapping-Ansätze in einen historischen Kontext. Dass innerhalb der CIAM-Ländergruppierungen kontroversiell diskutiert wurde, zeigen die Beiträge von Sokartis Georgiadis und Ute Schneider. Die beiden letzten Beiträge im Essayteil des Buches von Kees Sommer und Sophie Wolfrum beschäftigen sich mit der Dissemination und den Nach- wirkungen der Konferenz.
Im zweiten Teil des Buches werden alle 18 Länderbeiträge wiedergegeben. Von einer Expertengruppe unter der Leitung von Cornelius van Eesteren wurden vorab die Parameter für eine vergleichende Stadtanalyse festgelegt. Drei Karten, zwei davon im Maßstab 1 : 10.000 und eine im Maßstab 1 : 50.000, geben über die grundlegenden Funktionen der Stadt Auskunft: Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. Ergänzt wird das Kartenmaterial durch Fotomaterial und erklärende Berichte zu den einzelnen Städten. Karte I enthält: Wohnung (Lage, Wohndichte, Entstehungsjahr); Erholung (Grünflächen, Wald, Sportanlagen, Schre- bergärten); Arbeit (Geschäftsviertel, Industriegebiet, Lagerplätze, Markthallen, städt. Betriebe). Karte II enthält: Verkehr in der Stadt (Hauptverkehrs- straßen, Verkehrsmittel, Straßenprofile mit anschließender zulässiger Bebauung). Karte III enthält: Umland der Stadt (Zahl der auswärts wohnenden und in der Stadt Arbeitenden, Fernverkehr, Vororte- bahnen, Ausfallstraßen, landwirtschaftliche Versorgung, Industrie, Erholungsgebiete, Wald, die wichtigsten Profile der Ausfallstraßen).
Zum Schluss lagen an Bord der Patris Planmaterial und Berichte über 34 Städte vor. Es ist nun erstmals eine Zusammenschau aller Beiträge möglich. Die Vielfalt und der reine Umgang mit den Vorgaben sind verblüffend, und darin liegt auch das größte Verdienst dieser Publikation. Der Mythos eines homogenen Ansatzes für die moderne Stadt lässt sich nicht länger aufrecht erhalten, vielmehr reflektieren die Beiträge lokale Debatten und Traditionen, und es stellt sich die Frage, inwieweit sie bereits gesellschaftspolitische Kontroversen vorweg nehmen, wie sie im Zweiten Weltkrieg ausgetragen wurden.
Es ist bedauerlich, dass sich die HerausgeberInnen entschlossen haben, die 1940er Jahre sowie den Wiederaufbau auszuklammern. Gerade die Einbeziehung der erstarkenden Disziplinen der Raumforschung und Raumplanung würden neue Sichtweisen und Zusammenhänge eröffnen. War es doch gerade die Methode der Soziografie, die die großdeutschen Planungen bestimmte und als Grundlage über die politischen Systeme hinweg weiterführte. Die Methode, städtische und regionale Großräume als soziale Intervent-ionsfelder zu visualisieren und entsprechend zu organisieren, findet sich auch in Leslie Patrick Abercrombies Greater London Plan von 1942. Den transnationalen Diskurskonstellationen nachzuge- hen wäre ein weiterer Schritt in Richtung Entmythisierung.
Otto Neurath, bereits von Josef Frank 1929 für eine CIAM-Teilnahme vorgeschlagen, nahm 1933 als einziger Österreicher am Kongress über die Funktionale Stadt teil. Neuraths gescheiterter Beitrag, der eine universelle Bildsprache für die Städtebauanalysen entwickeln wollte, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Sein volksbildnerischer Ansatz, ein für alle lesbares System auszuarbeiten, stieß bei den teilnehmenden ArchitektInnen auf Ablehnung. Neuraths Mitarbeiter- Innen entwickelten die Wiener Bildstatistik über die politischen Systeme hinweg weiter – in diesem Zusammenhang ist Roland Rainers Planungskonzept für Wien von 1962 zu nennen. Federführend bei der grafischen Konzeption der komplexen Sachverhalte war Neuraths Mitarbeiterin Edith Matzalik, die ab 1942 für die Landesplanungsgemeinschaft Mark Brandenburg tätig war, bevor sie 1946 von Franz Schuster in die Wiener Stadtplanungsabteilung geholt wurde und dort für Ausstellungsvisualisierungen verantwortlich war.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Leitbildern der Funktionalen Stadt ist in der österreichischen Rezeption kaum vorhanden. Das Thema wird meist nur im Zusammenhang mit einer Abgrenzungsstrategie gestreift, die die Wiener Moderne bzw. das Städtebaumodell des Roten Wien als Antithese zur dogmatischen CIAM- Moderne positioniert. Völlig negiert wird die von der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky 1947 wieder gegründete Landesgruppe CIAM-Austria und deren Rolle als Katalysator für den Wiedereinstieg österreichischer Architekten und Architektinnen in den internationalen Diskurs. Unter der Patronanz der Besatzungsmacht Frankreich und CIAM-Austria fand 1948 eine Ausstellung über das Baugeschehen in Frankreich statt; dort wurde die von Le Corbusier entwickelte Systematik des Grille, eines einheitlichen Präsentationsrasters, der ab 1949 bei allen CIAM-Kongressen zum Einsatz kam, zum ersten Mal erprobt. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die Funktionale Stadt nach 1945 zum Sprachrohr einer gesellschaftspolitischen Agenda in der Zeit des Kalten Krieges wurde.
Dem vielschichtigen Forschungsansatz der HerausgeberInnen sowie den nuancierten Beiträgen des internationalen AutorInnenteams ist diese gelungene Publikation zu verdanken. Die qualitätsvolle Umsetzung sowie die gelungene Grafik unterstützen den Zugang in die komplexe Thematik. Mein Wunsch zum Schluss: eine Fortsetzung zum Thema CIAM-Nachkriegsmoderne.
Monika Platzer ist Kuratorin und Mitarbeiterin des Architekturzentrum Wien.