Das Judentum, der Fußball und das Phänomen der nicht-jüdisch jüdischen Fankultur
Besprechung von »Superjuden. Jüdische Identität im Fußballstadion« hg. von Agnes Meisinger und Barbara StaudingerAgnes Meisinger und Barbara Staudinger;
Jüdisches Museum Wien (Hg.)
Superjuden. Jüdische Identität im Fußballstadion
Wien, 2023
23,90 EUR, 105 Seiten
Superjews (NL 2013)
Regie: Nirit Peled
niritpeled.com/works/super-jews
Ist vom jüdischen Wien Anfang des 20. Jahrhunderts die Rede, stehen zumeist Kunst, Kultur und Wissenschaft im Zentrum der Auseinandersetzung. Von Sport, im Besonderen von Fußball, hört und liest man hingegen selten. Anders war das bei der Ausstellung Superjuden. Jüdische Identität im Fußballstadion im Jüdischen Museum Wien. Hier ging es um nichts anderes. Die Ausstellung ist leider nicht mehr zu sehen, dankenswerterweise gibt es einen lesenswerten Katalog.
Am ehesten ist aus dem angesprochenen Zeitraum noch der SC Hakoah bekannt, dessen Fußballmannschaft in der Saison 1924/25 den Meistertitel erobert hat. Der Verein wurde 1909 gegründet, nicht zuletzt deswegen, weil schon damals immer mehr Sportvereine Arierparagrafen in ihre Statuten aufgenommen hatten, was es jüdischen Sportler:innen verunmöglichte, in ihnen aktiv zu sein. Der Verein existiert nach wie vor, eine Fußballsektion gibt es allerdings nicht mehr. In Wien galt und gilt Austria Wien als der Judenklub. Das hat (heute) weniger damit zu tun, dass die Austria ihre jüdische Geschichte als Teil der Identität des Klubs präsentieren würde, sondern eher damit, dass die Austria bei den Fans gegnerischer Vereine als solcher gilt und deswegen antisemitische Ausfälle immer noch nicht verschwunden sind. Ganz anders ist das bei der Vienna – zumindest in der jüngeren Vergangenheit. Fans des First Vienna Football-Club verweisen stolz auf die jüdische Geschichte, einer der Fanklubs trägt sogar den Nachnamen des ersten Förderers des Vereins, Nathaniel Rothschild, im Namen: Partizan*Rothschild. Dabei wurde die Vienna in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens – im Gegensatz zur Austria oder Hakoah – gar nicht mit dem Judentum in Verbindung gebracht. Englische Gärtner der Rothschilds und Freunde gründeten den Verein 1894 im Gasthaus Zur schönen Aussicht. Die Hohe Warte, so der Name des Naturstadions der Vienna, liegt nicht nur in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Rothschildgärten, sondern auch unweit des Karl-Marx-Hofs, der allerdings erst gut 30 Jahre nach der Vereinsgründung errichtet wurde. Die Vienna war jedoch nie ein Arbeiterklub. Die Funktionäre von der Gründung bis 1938 stammten zumeist aus dem gehobenen Bürgertum, rund ein Drittel waren Juden oder jüdische Konvertiten. 1931 gewann die Vienna erstmals den österreichischen Meistertitel und in derselben Saison den Mitropapokal, der als Vorläufer des Europapokals gilt.
Ähnlich wie die Austria Wien ignorierte auch Bayern München lange Zeit seine jüdische Geschichte. Dass Bayern München ein Klub ist, bei dem Juden eine wichtige Rolle gespielt haben, war dem Verein selbst viele Jahrzehnte keine Erwähnung wert. Nur in den Jahren der Entnazifizierung nach 1945 hielt es die Vereinsführung für opportun, darauf hinzuweisen. Es ist dem Fanklub Schickeria zu verdanken, dass diese Geschichtsvergessenheit 2005 ein Ende fand. Damals veröffentlichte der Fanklub einen Artikel über Kurt Landauer, den langjährigen jüdischen Präsidenten des Vereins, der völlig in Vergessenheit geraten war. Heute befindet sich auf dem Trainingsgelände der Bayern eine Bronzestatue von Kurt Landauer. Der Verein gab eine Studie über die Vereinsgeschichte in Auftrag. Diese räumte mit der Legende, der Verein sei ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen, auf, und wies darauf hin, dass er »am Nationalsozialismus partizipierte und seine jüdischen Mitglieder 1935 endgültig verbannte«.
Ein Kuriosität, was jüdische Identität anbelangt, sind die Tottenham Hotspurs und Ajax Amsterdam. Beide Vereine haben keine relevante jüdische Geschichte, ihre großteils nicht-jüdischen Anhänger:innen fühlen sich dem Judentum trotzdem sehr verbunden. Die Stadien der beiden Vereine liegen in historisch jüdisch geprägten Stadtvierteln. Sie wurden deswegen von gegnerischen Fans oft als jüdisch wahrgenommen. In den Stadien kam es zu antisemitischen Ausfällen und Beschimpfungen, bei Tottenham bereits ab den 1970ern, als Rechtsextreme vermehrt die Fanszene britischer Vereine unterwanderten.
Die wie gesagt vorrangig nicht-jüdischen Ajax- und Tottenham-Fans reagierten darauf mit der Ausbildung einer fake jewish identity. »Die pseudo-jüdischen Fangruppierungen Superjoden bzw. Yid-Army schwingen Fahnen mit dem Davidstern, singen hebräische Volkslieder und tragen Kleidung, die jüdische Symbolik beinhaltet, und setzen sich dabei immer wieder antisemitischen Parolen und Übergriffen aus.« Die affirmative Aneignung von gegen Juden und Jüdinnen gerichtete Schimpfwörter wie Yid oder Yiddos stößt bei vielen, vor allem älteren jüdischen Brit:innen auf Ablehnung, jüngere begrüßen diesen selbstbewussten »rhetorischen Code-Wechsel« (Umberto Eco) als »völlig legitim und sind stolz auf die Spurs«. Die Aneignung von stigmatisierten Bezeichnungen kommt in der Geschichte von sozialen Bewegungen immer wieder vor, siehe Punks, Krüppel oder Schwule bzw. Lesben. Das besondere im Fall der Fans von Tottenham Hotspurs und Ajax Amsterdam liegt daran, dass diese Umdeutung nicht durch die mit den abwertenden Begriffen Yid oder Yiddos bezeichneten Juden und Jüdinnen passierte, sondern von Nicht-Juden. Trotz verbreiteter Kritik an der Verwendung des Begriffs Yid durch Tottenham-Fans, u. a. auch vom Jüdischen Weltkongress, und dem Aufruf des Vereins, die Bezeichnung nicht mehr zu verwenden, bleibt die Yid Army laut und aktiv – ohne auf die Bezeichnung zu verzichten. Über die Amsterdamer Superjoden gibt es übrigens einen sehenswerten Film von der von Israel nach Amsterdam übersiedelten Regisseurin Nirit Peled.
Der Katalog Superjuden enthält nicht nur Wissenswertes über die jüdische Geschichte und Identität einiger europäischer Fußballklubs, sondern auch persönliche Texte, wie den von Michael Brenner über seinen Vater. Dieser war in seiner Jugend selbst Fußballer und – in Deutschland lebend – zwar ein Fan von Bayern München, wenn die deutsche Nationalmannschaft gegen die —niederländische spielte, drückte er jedoch für die Niederländer die Daumen. Schließlich haben die Deutschen ganz Europa überfallen, während die Niederländer Anne Frank versteckten. Außerdem unterstützten die Niederländer im Jom-Kippur-Krieg als eines der wenigen Länder Europas Israel. Wir sehen, es ist ein komplexes Thema. Dank Superjuden ist es möglich, sich einen Einblick zu verschaffen.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.