Das Rahmenwerk der Architektur
Besprechung von »Yona Friedman. The Dilution of Architecture« herausgegeben von Nader SerajThe Dilution of architecture ist der erste große Überblick über das umfangreiche Lebenswerk des 1923 in Ungarn gebo-renen Architekten, Visionärs und Künstlers Yona Friedman, der später die französische Staatsbürgerschaft annahm. Friedman wurde in erster Linie auf Grund der utopischen Stadtentwürfe seiner Ville Spatiale bekannt. Sie wurden gemeinhin als Beitrag zur Konzeption der Megastruktur wahrgenommen, welche die Architekturavantgarde der 1960er Jahren prägen sollte.
Im ersten Teil der umfangreichen Publikation werden Konzeptionen Friedmans von der Ville Spatiale bis hin zu aktuellen Projekten vorgestellt, während Friedmans Co-Autor Manuel Orazi im zweiten Teil eine Einordnung von Friedmans Werk in die Geschichte der Architektur-Avantgarde nach 1945 vornimmt und so einen weit über die Einzelfigur hinausgehenden Überblick über einen verwinkelten Diskurs und seine ProtagonistInnen gibt, der sich über weite Strecken spannend liest. Dabei wird auch der Kritik, die im Laufe der Jahrzehnte an Friedmans Konzeptionen geübt wurde, einiger Platz eingeräumt.
Der Buchtitel gibt einen ersten Aufschluss zur Ausrichtung von Friedmans Denken. Dilution, das soviel wie Verwässerung und Abschwächung bedeutet, verweist auf eine Eigentümlichkeit der Stadtentwürfe Friedmans, die über der existierenden Stadt, aufgeständert auf mächtigen Pilotis, eine zweite Raumschicht ausbilden. Sie sind einerseits Megastruktur, unterscheiden sich jedoch gleichzeitig vom grundlegenden totalen Design verwandter utopische Entwürfe. Bei Friedman kommt der Architektur eine dezidiert dienende Rolle zu. Sie wird zur sozialen Kunst erklärt, die lediglich ein Rahmenwerk ausbilden soll, innerhalb dessen sich selbst-ermächtigte NutzerInnen, ihrer Wunschproduktion folgend, einrichten können. Friedman gehört somit zu den Pionieren und Befürwortern einer partizipativen Raumproduktion. Folgerichtig weisen die Gebäude seiner oft etwas naiv wirkenden Collagen und Modelle keine Fassaden auf und verweigern ihrer Großmaßstäblichkeit zum Trotz jeden Objektcharakter. Es sind unfertige Bilder, die von Friedman als Denkanstöße verstanden werden möchten. So erstaunt es nicht, dass das Netzwerk, in dem sich Friedman bewegte und bewegt, ein interdisziplinärer Pool von ProtagonistInnen ist. Soziologie, Spieltheorie und Mathematik spielen eine ebenso große Rolle wie Fragen der Statik und der technischen Infrastruktur. Friedman hat sich mit dem Physiker Werner Heisenberg und dem Informatiker Nicholas Negroponte aus-getauscht. Er ist mit den SituationistInnen zusammengetroffen, hat mit Constant Nieuwenhuys einen Disput über die Stadt von morgen geführt, hat in jungen Jahren am CIAM-Kongress in Dubrovnik teilgenommen und dabei immer ein interdisziplinäres Denken propagiert, das über die engen Grenzen der jeweiligen Einzeldisziplin hinausgeht.
Aus heutiger Sicht erscheinen die Unterschiede seiner Entwürfe zu verwandten Konzeptionen interessanter als ihre augenfällige und vielleicht nur oberflächliche Übereinstimmung. Während Constant Nieuwenhuys’ utopisches Projekt seines New Babylon beispielsweise von einer zukünftig post-industriellen und im Wesent-lichen kollektiv organisierten Gesellschaft ausgeht, finden sich in Friedmans Texten keine Ansätze einer implizit kollektiven Utopie. Er scheint eher einer anarchistischen Denktradition näher zu stehen, die die Freiheit in den Mittelpunkt stellt. Folgerichtig ist bei Friedman von der »Koexistenz in Diversität« die Rede.
In den letzten Jahrzehnten wurde sein Werk vermehrt im Kunstkontext rezipiert. Seine Arbeit wurde wiederholt auf der Documenta und auf der Kunstbiennale in Venedig gezeigt. Die seiner Arbeit innewohnende Reserve gegenüber traditioneller Planung und die Thematisierung des Prozessdesigns scheinen oft mehr mit gegenwärtigen künstlerischen Praktiken gemein zu haben als mit einer Architekturszene, die nach wie vor von der radikalen Umdeutung des Architekten vom Gestalter hin zum Koordinator – wie sie Yona Friedman vorgenommen hatte – überfordert ist, da sie das Selbstverständnis der Disziplin in Frage stellt. Dennoch hat Friedman immer wieder Stichworte geliefert, die später auch im konventionellen Planungsdiskurs auftauchten. Er hat zum Beispiel Urban Farming und Fragen der Versorgungsautarkie thematisiert, bevor das Thema seinen Hipnessfaktor bekommen hat.
Seine Projekte verstanden sich von Anfang an als Szenarien der Verdichtung bestehender Städte und sind somit weit von den Projekten entfernt, die auf einer Tabula rasa eingerichtet wurden. Gleichzeitig spielen das kollektive Gedächtnis und die Geschichte der Stadt, die in der Postmoderne thematisiert wurden, im Denken Friedmans eine untergeordnete Rolle. Die schwebenden Strukturen Friedmans, die er in schier unendlichen Varianten und Inkarnationen bis heute weiterentwickelt hat, flottieren weiterhin hoch über der Stadt, verweigern die Landung und somit die direkte Konfrontation mit der Wirklichkeit – wie KritikerInnen angemerkt haben.
Friedman geht es bei seinen Visualisierungen in erster Linie um die möglichst breitenwirksame Vermittlung seiner Visionen. Die im Laufe der Jahre zunehmend vereinfachten Diagramme, comichaften Erläuterungen, Modelle und Collagen entstammen auch einer anti-elitären Haltung, die auf leichte Verständlichkeit setzt und eine akademische Vermittlungspraxis meidet. Friedman weiß natürlich, dass die Wahrscheinlichkeit einer Realisierung seiner Konzeptionen nur gelingen kann, wenn möglichst viele Menschen von ihr über-zeugt sind. Außer dem Lycée David in Angers hat er bisher kein Gebäude verwirklichen können. So entsteht mitunter
der beklemmende Eindruck, dass Friedmans Stadtvisionen Geisterstädte sind, aus denen die Bevölkerung ausgezogen oder in die noch niemand eingezogen ist.
Und dennoch: Auch wenn die Umsetzung von Friedmans Ideen kaum direkt erfolgte, weisen sie unbestreitbar viele Bezüge zum gegenwärtigen Diskurs auf. Fragestellungen einer prozessualen
Stadtentwicklung, die nicht auf fertige Leitbilder, sondern auf Qualitätsmanagement und avancierte Verfahrenskultur setzt, finden in Friedmans Konzeptionen ihren Widerhall. ErforscherInnen informeller Siedlungsformen des globalen Südens teilen mit Friedman eine gewisse Faszination an prozesshaften, auf Eigenermächtigung der NutzerInnen setzende Strategien.
Aus heutiger Sicht erscheint vielleicht ein Projekt besonders interessant. Basierend auf dem existierenden europäischen Eisenbahnnetz hat Yona Friedman eine Konzeption Europas als Kontinent-Stadt propagiert. Ein Netzwerk aus Städten, verbunden durch die Eisenbahn, ist zugleich ein einfaches wie ein radikales Modell. Nationale Grenzen sind darin aufgelöst. Die Landschaft, die sich zwischen den Städten aufspannt, ist frei von suburbanen Verwerfungen. Es handelt sich um ein Szenario der Verdichtung und der Vernetzung, von dem das heutige Europa soweit entfernt scheint wie nie zuvor.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.