Das Ringen um die nackte Existenz
Besprechung der Filme »Arábia/Araby und Baronesa« von Affonso Uchoa, João Dumans und Juliana AntunesWie lassen sich angesichts der derzeitigen komplexen weltpolitischen Situation filmische und dokumentarische Formen der Narration finden, die uns dazu bewegen, über den europäischen Tellerrand zu blicken und Welt territorial, mental und emotional anders zu denken. Für ihr Dokumentar- und Spielfilmprogramm ist es der diesjährigen Viennale gelungen, dafür starke, unter die Haut gehende Positionen zu finden, ohne sich dabei bloß auf eine Spurensuche nach der filmischen Übersetzbarkeit oder Inszenierung von Realität zu machen. Exemplarisch dafür ausgewählt wurden zur Gegenüberstellung der Dokumentarfilm Baronesa von Juliana Antunes und der Film Arábia der Regisseure Affonso Uchoa und Joao Dumans.
Im neueren brasilianischen Dokumentarfilm zeichnet sich derzeit eine Tendenz ab Methoden der filmischen Produktion zu praktizieren, in der das Filmteam aus seiner Rolle als ProduzentIn heraustritt und mit den ProtagonistInnen direkt vor Ort arbeitet und lebt und damit auch deren räumliche Ökonomien temporär mitverhandelt.
Baronesa lautet der Titel einer Dokumentation, deren Schauplatz eine Favela in der brasilianischen Millionenstadt Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaates Minas Geras ist. In der Stadt tobt zwischen verschiedenen Gangs ein Drogenkrieg. Baronesa ist das Regiedebüt von Juliana Antunes und das 70-minütige Kondensat aus 100 Stunden Filmmaterial. Als Juliana Antunes vor fünf Jahren mit drei anderen Filmstudierenden im Rahmen eines Filmuni-Projektes mit ihrer Kamera losstartete, um eine Dokumentation über das Leben der Frauen in Favelas zu drehen, stieß sie zunächst auf Ignoranz. Keiner wollte mit ihr reden. Es brauchte einen originellen Einfall. Als sie ein Plakat mit dem Aufruf zur Beteiligung am Filmprojekt in einem der Beauty-Salons vor Ort aufhängte, traf sie auf ihre späteren Hauptprotagonistinnen Leid Ferreira und deren Schwägerin Andreia. Diese arbeitet als Nageldesignerin, während Leid sich um ihre und Andreias Kinder kümmert und auf die Entlassung ihres wegen eines Drogendeliktes im Gefängnis sitzenden Mannes wartet. Der tagtägliche Überlebenskampf der beiden Frauen wird verschärft durch den im Viertel tobenden Drogenkrieg. Detonationen erschüttern die Aufnahmen, Schüsse knallen. Es ist ein Drogenkrieg, der von den Behörden seit Jahren ignoriert wird. Juliana Antunes und ihre weibliche Crew lebten ein Dreivierteljahr in der Favela, schliefen in demselben Haus wie ihre zwei Hauptdarstellerinnen. Die einzelnen Sequenzen zeigen die zwei Frauen in zunächst chillig wirkenden Situationen: mit ihren Kindern spielend, plänkelnd und mit ihrem Nachbarn flirtend, mit dem sie gleichzeitig Russisches Roulette spielen und ihm den Revolver entgegenhalten; in zu einem Erfrischungspool umfunktionierten Plastiktrog planschend; sich Briefe vom fernen Bruder vorlesend oder über ihre Zukunft spekulierend. Während Andreia unbedingt weg will, um ihr Hausprojekt in einem Dorf außerhalb voranzutreiben, dafür legt sie selbst Hand an, betoniert und schichtet Ziegel auf Ziegel, wartet Leid auf die Entlassung ihres Mannes. Selbst wenn Gewaltszenen in den Aufnahmen nicht sichtbar sind, werden sie latent spürbar, wenn Leid über den an ihr verübten sexuellen Missbrauch als Teenager spricht. Besonders spürbar ist die Anspannung als Leid mit ihrem Sohn in einen verbalen Konflikt gerät, der zunächst spaßig beginnt und sich hochschaukelt. In einer anderen Szene ist im Close-up Leid zu sehen, während sie ihren im Bild nicht sichtbaren heulenden älteren fünfjährigen Sohn attackiert, nachdem sie ihn beim sexuellen Missbrauch an seinem jüngeren Cousin erwischte. Trotz dieser drastischen Realität gewinnt vor allem Leid zunehmend Lust daran, vor der Kamera zu agieren, produziert dadurch ihr eigenes Territorium innerhalb der Favela. Die von ihr selbst inszenierten Actionszenen wurden aus der Endfassung allerdings herausgeschnitten.
Wie sich das aktuelle brasilianische Kino dokumentarischer Mittel bedient, zeigt der Film Arábia (2017) der Regisseure Affonso Uchoa und Joao Dumans, die mit LaiendarstellerInnen zusammenarbeiten. Mit ihrem Hauptprotagonisten Aristides de Sousa verbindet sie eine innige Freundschaft. Arábia skizziert zunächst ein Panorama der brasilianischen Industriestadt Ouro Preto. Was wie ein Road Movie beginnt, stellt sich als nuanciertes Porträt der schwierigen Situation der brasilianischen ArbeiterInnenschaft und deren sozialer Unterdrückung infolge ökonomischer Ausbeutung heraus. Ein Teenager radelt die Serpentinen einer Bergstraße entlang. Andre (Murilo Caliari) haust gemeinsam – aufgrund ökonomischer Zwänge vernachlässigt von seinen Eltern – mit seinem kranken jüngeren Bruder unter der medizinischen Betreuung seiner Tante, einer Krankenschwester, in einem Stadtteil von Ouro Preto, wo eine Aluminiumfabrik das Leben der StadtbewohnerInnen bestimmt. Im Krankenhaus trifft er auf den durch einen Betriebsunfall schwer verletzten Cristiano (Aristides de Sousa). Als dieser stirbt, wird Andre in dessen Wohnung geschickt, um Nachforschungen über sein Vorleben und seine Verwandten anzustellen. Dort findet er Cristianos Tagebuch mit Einträgen über die letzten 20 Jahre seines Lebens. Während des Lesens rollt Cristianos Arbeiterleben in biografischen Sequenzen vor den ZuschauerInnen ab. Der in diesem Kontext zunächst rätselhaft klingende Titel Arábia bezieht sich sowohl auf die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht als auch auf die Kurzgeschichte Araby von James Joyce. In Episoden wird erzählt, wie Cristiano auf der Suche nach Arbeit in unterschiedliche Gegenden Brasiliens reist und währenddessen verschiedene Jobs im Straßenbau, bei der schließlich unbezahlten Mandarinenernte oder in Fabriken verrichtet. Für seine Liebe Ana (Renata Cabral), auf die er in einer der Fabriken trifft, findet er nur Worte in der Einsamkeit des Schreibens. Trotz des in Slow-Motion inszenierten filmischen Realismus ist es ein Bild der Rastlosigkeit bedingt durch die aufgrund der neofeudalistischen Verhältnisse andauernde Ausbeutung der Arbeiterschaft, das Arábia zeichnet. Ehe sie zum endgültigen filmischen Finalcut gelangt sind, haben die Regisseure unzählige Variationen durchgespielt, was eine fesselnde Verdichtung dieses Filmepos zur Folge hat.
Ursula Maria Probst