Das Verhältnis von Kunst und Design zum Leben
Besprechung der Ausstellung »Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer« im Wien Museum MUSAAtelier Bauhaus, Wien
Friedl Dicker und Franz Singer
Kuratorisches Team: Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus, Georg Schrom
24. November 2022 bis 26. März 2023
Wien Museum MUSA
Das Wien Museum MUSA ruft das Werk von Friedl Dicker und Franz Singer in einer sorgfältig gestalteten Ausstellung in Erinnerung. Der Titel der Schau, Atelier Bauhaus, Wien, ist Programm wie Praxis und macht neugierig, sind doch bauhaus-inspirierte Arbeiten im Wien der Zwischenkriegszeit eine Ausnahmeerscheinung. War künstlerisch-progressive Arbeit im österreichischen Ständestaat schwierig, so bereitete der Anschluss des Landes an Nazi-Deutschland dieser Arbeit ein jähes Ende. Von den ausgeführten Werken haben sich nur Einzelstücke erhalten. Umso eindrücklicher belegen hier die aus dem Bauhaus-Archiv Berlin und aus Wiener Privatbesitz stammenden Zeichnungen das künstlerische Potenzial dieser Teamarbeit aus den Jahren 1925 bis 1933.
Friedl Dicker und Franz Singer besuchten die private Kunstschule von Johannes Itten in Wien und folgten ihm mit anderen Begeisterten zum gerade erst gegründeten Staatlichen Bauhaus in Weimar, wohin Walter Gropius den freigeistigen Künstler-Lehrer berufen hatte. An dieser einflussreichsten aller Kunstschulen – ihre Schatten ragen hinein bis in unsere Tage – wurde am Design einer neuen, einer besseren Welt gearbeitet: Kunst und Handwerk sollten im Ineinander-Aufgehen zur einheitlichen Kultur in egalitären Verhältnissen führen, und das zum Wohle aller. Derart inspiriert führte der Weg der beiden über eine nur bescheiden erfolgreiche Mitarbeit an den Werkstätten bildender Kunst in Berlin zurück nach Wien. Hier waren es aufgeschlossene Kreise, oftmals Freunde und Bekannte, die es Dicker und Singer ermöglichten, zusammen mit zahlreichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, Interieurs, Geschäftseinrichtungen, Möbel und kleinere Bauaufgaben zu verwirklichen. Die in der Ausstellung gezeigten Entwurfs- und Präsentationszeichnungen führen das Publikum in eine faszinierende Welt von Darstellungen, die in ihrem Grad an Abstraktion eher auf das räumlich-konstruktiv-konzeptionelle Verstehen abzielt als auf eine sogenannte realitätsgetreue Abbildung: unter dem Einfluss der Ideen von De Stijl entstanden zahlreiche farbige Axonometrien, die in ihrer erfrischenden graphischen Qualität überzeugen. Die Axonometrie ist das auffallende und immer wiederkehrende Merkmal aus dem gemeinsamen Atelier. Sie soll als Parallelprojektion von dreidimensionalen Gegenständen – Grundriss und Rauminhalt in einem – die Darstellung einer neuen, einer wahren räumlichen Konzeption bewirken, der es um inhaltliche Verhältnisse und um farbliche Balance geht. So können viele Blätter in ihrer Komposition und Farbwahl für sich allein bestehen: es sind autonome Kunstwerke. Beispielhaft seien hier die Zeichnungen zur Villa Neumann und zur Wohnung Reymers-Münz, beide aus dem Jahr 1930, erwähnt. In anderen Zeichnungen wiederum lässt sich die Wirkung des russischem Konstruktivismus erkennen. Der Grundriss mit Bewegungspfeilen für die Wohnung Téry-Buschmann liest sich wie eine Handlungsanweisung zum Wohnen: die Zeichnung wird hier zum Abbild einer sozialen Konstruktion, das Leben wird organisiert. Am Beginn der Arbeit Franz Singers – die Mitarbeit von Friedl Dicker wird vermutet – steht der Phantasus-Baukasten, der als didaktisches Projekt die künstlerische Kreativität der Kinder anregen soll. Hier wird die Lehre Ittens spürbar, für den das Spiel (mit der Abstraktion) eine wesentliche Grundlage zum künstlerischen Verständnis darstellte. Der Entwurf von Kinderspielzeug, anfangs am Bauhaus als bewusster Akt gegen die vorherrschende akademische Lehre gesetzt, reflektierte die Gedankenwelt der unterschiedlichen Reformschulen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Wirkung entfalteten. Das Leben selbst und die Natur waren zum Gegenstand des Interesses geworden. So ist auch das besondere Engagement von Friedl Dicker und Franz Singer beim Entwurf des städtischen Montessori-Kindergartens im Goethehof (1931) zu verstehen. Der damals oft beschworene neue Mensch sollte von Anfang an in entsprechender und inspirierender Umgebung mit geeigneten Gegenständen aufwachsen. So manches, das hier auf historischen Fotografien belegt ist, hat sich bis in unsere Zeit erhalten, so etwa die verstellbaren Tische oder die stapelbaren Hocker. Überhaupt kann gesagt werden, dass viele Möbel dieser Werkschau von einer gewissen Finesse hinsichtlich ihrer Benutzbarkeit, ihrer Modularität sowie ihrer Möglichkeiten der Anordnung im Raum gekennzeichnet sind. So gibt einmal ein Kastenmöbel eine überraschende Anzahl von Sitzmöbeln frei, ein andermal erfreut die Entfaltung eines Sekretärs für ein Damenzimmer, oder verblüfft das Herausschwenken eines ganzen Bettes aus einem eingebauten Sockel.
Die Versuche, mit wenigen Mitteln auf spielerische Weise ein Höchstmaß an Funktion und bestmöglicher Raumnutzung zu erreichen, erinnern stark an gegenwärtige Bemühungen zur bewohnbaren Bewältigung kleiner Volumina. Einen Höhepunkt, allerdings bereits ohne Mitarbeit von Friedl Dicker, bildet der Bau und die Einrichtung des Gästehauses Auersperg-Hériot, das einerseits als Aufbau auf eine bestehende Garage ein Beispiel gelungenen Weiterbauens ist, andererseits in seinem Angebot an Terrassen- und anderen Freiflächen von einem Leben erzählt, das in seiner spielerischen Modernität die Freude am Dasein feiert.
Im Jahr 1931 trennten sich die Wege von Friedl Dicker und Franz Singer. Als Parteimitglied der KPÖ schaffte Friedl Dicker großformatige Collagen, deren düstere Vorausschau auf den Lauf der Welt noch heute erstaunt. Nach dem Umzug in die Tschechoslowakei, der Heirat mit Pavel Brandeis, wurde sie 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie Kindern Malunterricht erteilte. Friedl Dicker-Brandeis wurde im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Franz Singer zog 1934 zu seiner Frau Emmy Heim nach London und arbeitete dort für verschiedene Warenhäuser. Er starb 1954.
Die in ihrer Farbigkeit ganz im Geiste dieses Künstler-Teams gestaltete Ausstellung, zu der ein umfangreicher Katalog erschienen ist, wirft die immer noch relevanten Fragen nach dem Verhältnis von Kunst und Design zum Leben selbst auf. Es sind Fragen, deren Beantwortung nie endgültig sein kann, die aber durch die hier gezeigten Beispiele einmal mehr inspiriert werden.
Peter Leeb ist Aktivist bei FRISCH - Freiraum Initiative Schmelz und lehrt am Institut für Kunst und Architektur. Er ist Architekt und Partner von NURARCHITEKTUR in Wien.