» Texte / De-Tours - Wie Film urbanen Raum produziert

Ursula Maria Probst


Die 59. Viennale 2021 reagiert auf die zunehmende Digitalisierung und dadurch bewirkte Einschnitte ins Filmbusiness durch ein Festival-Programm, das in seiner Diversität die Bedeutung des Kinos in der Behandlung gesellschaftspolitischer Fragestellungen und in der Bildung sozialer urbaner Räume hervorhebt. Erinnerung als Vergegenwärtigung von persönlichen oder kollektiven Erfahrungen oder deren Demontage wie in den großartigen Filmen der kubanischen Regisseurin Sara Goméz, deren Retrospektive zu den Highlights der diesjährigen Viennale zählte, bilden einen der roten Fäden, die zur Fähigkeit des Kinos, Zukunftsvisionen zu aktivieren, überleiten. Zur Intensivierung entsprechender Netzwerke wurden internationale Cineast*innen und Festivalleiter*innen eingeladen, sich über das Kino als Kunstform und die Filmindustrie als Wirtschaftsfaktor für eine Stadt in einem zweitägigen Treffen auszutauschen.         Unter Einfluss von Digitalisierung, Internet und Artificial Intelligence verändern sich unsere Wahrnehmungen von Stadt und auch die filmischen Mittel. Wie im Film mit urbanem Raum, dessen Infrastruktur und Ökonomien umgegangen wird und wie dafür spezielle visuelle Codes entwickelt werden, visualisiert eindrucksvoll der Film Obkhodniye Puti (Detours) (2021) von Ekaterina Selenkina, der in der Peripherie Moskaus startet und eine neue Art des illegalen Drogenhandels über das Dark Web zeigt. Herausgebildet hat sich hier eine Organisationsform, die die urbanen Koordinaten des neuen Moskaus nützt, um Lücken im behördlichen Überwachungssystem für Drogendepots zu nutzen. Als Zuseher*in folgen wir in der filmischen Erkundung der Stadt dem Treasureman Denis, der an entlegenen Orten potenzielle Verstecke durchforstet. Physische und virtuelle Realitäten überlagern sich durch die Einblendung von Bildsequenzen, die mit digitalen Tools, wie sie unter anderem von Überwachungskameras eingesetzt werden, produziert wurden. Unser Blick ist der einer Überwachungskamera, durch verschiedene Zoomeinstellungen werden Details der Nischen und Brachen der Stadt sichtbar, die ansonsten im Verborgenen bleiben.
        Für ihren Film Esquirlas (Splinters) (2020) verwendet die argentinische Regisseurin Natalia Garayalde Videoaufnahmen, mit welchen sie als Zwölfjährige die Ereignisse rund um die Explosion einer Militärfabrik in ihrer Heimatstadt Rio Tercero am 3. November 1995 dokumentierte. Selbst unmittelbar von diesem kriegsartigen Szenario einer Serie von Denotationen, Granatsplittern und Chemiewolken betroffen (in Folge starben ihr Vater und eine ihrer Schwestern an Krebs), montiert Natalia Garayalde 25 Jahre später ihre eigenen Aufnahmen mit Fernseharchivmaterial zu einem eindringlichen Zeitzeugnis. Ihre persönliche Betroffenheit gewinnt an politischer Intensität, indem sie aufzeigt, wie die Explosionen und vorsätzliche Verwüstung der Stadt von Beamten des staatseigenen Unternehmens veranlasst wurden, um den illegalen Waffenschmuggel nach Ecuador und Kroatien zu vertuschen. 2014 wurden sie zu zehnjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Film zeigt auf, wie stark das Schicksal einer Stadt und ihrer Bevölkerung von skrupellosen Machenschaften der Regierung abhängt. Wie wichtig ist Film für das Gedächtnis der Stadt und deren Beziehung zu ihren Vororten? Wie formen sich durch Geschichten der dort lebenden Menschen in Bildern erzählte Orte? Was hält ein Land zusammen, wenn Diskriminierungen und Isolation an der Tagesordnung stehen? Wie bereits in ihrem Debütfilm Le tour du monde (2006) erkundet die Dokumentarfilmerin Alice Diop in ihrem bei der Berlinale 2021 preisgekrönten Dokumentarfilm Nous (2020) die Welt der Vororte von Paris. Sie folgt der Schnellbahnlinie RER B, die von Nord nach Süd quer durch Paris und die Außenbezirke führt, und lädt uns durch verschiedene Episoden in Soziotope ein, welche die angespannte Situation der derzeit zerklüfteten französischen Gesellschaft zeigt, ohne dabei die Frage nach dem Wir, nach der Gemeinschaft aus den Augen zu verlieren. Essayistisch inspiriert von François Maspero und dessen Logbuch Les Passagers du Roissy-Express gelingt Alice Diop ein aktuelles Zeugnis, das trotz distanziertem Blick gleichzeitig sehr persönlich ist. Einen Schauplatz von Nous bildet ihr Geburtsort – die Stadt Aulnay-sous-Bois 15 Kilometer nordöstlich von Paris. In einer kurzen Sequenz ist am Beginn eine Familie im Morgengrauen im Wald zu sehen, die Wild aufspürt und einen Prolog zu Alice Diops filmischen Untersuchungen zur französischen Klassengesellschaft bildet, der Film endet mit einer lärmenden Jagdgesellschaft. Dazwischen porträtiert die Regisseurin Menschen, die stellvertretend für das Nous (Wir) einer Migrationsgesellschaft stehen, darunter auch Familienangehörige wie ihren Vater, der von seiner Migration aus dem Senegal erzählt oder ihre Schwester, die als mobile Pflegerin arbeitet. In krassen Kontrast dazu sind Einblendungen von Royalist*innen zu sehen, die in der Kathedrale von Saint-Denis eine Gedächtnisfeier an Ludwig XVI. zelebrieren, außerdem Videoaufnahmen von einer Gedenkstätte in Drancy Avenir, von wo aus Transporte in die Vernichtungslager des Holocausts abfuhren. Kritisch wird der zunehmend brüchig werdende Zusammenhalt der französischen Gesellschaft von Alice Diop mit den dokumentarischen Mitteln einer Chronistin analysiert, ohne dabei die Perspektiven zu verengen.
        Die Werkschau der 1974 mit 31 Jahren verstorbenen Afrokubanerin Sara Gómez liefert einen direkten Blick auf den Marginalismo in Kuba als eine der Folgeerscheinungen der Revolution und thematisiert in dem Film De Certa Manera (In gewisser Hinsicht) (1974–1977) die Eingliederung aller Kubaner*innen in die postrevolutionäre Gesellschaftsform, den Konflikt zwischen Kollektiv und Individualismus sowie die sich dabei formierenden Parallelgesellschaften und bietet damit unmittelbare Einblicke in die Neuvermessung der Revolution. Goméz lässt ihre Protagonist*innen sowohl als fiktionale Charaktere als auch als sie selbst agieren wie die Lehrerin Yolanda, die im Versuch, strikt nach einer planmäßigen Pädagogik vorzugehen, ihre Leidenschaften sozialen Ideologien unterordnet. Erkennbar ist in Sara Goméz kritischer emanzipatorischer Aufarbeitung ihre Zusammenarbeit mit Agnès Varda für deren Film Salut les cubains (1963). Im Stil einer Dokufiktion gedreht, dringen in De Certa Manera (In gewisser Hinsicht) Bilder der von Veränderungen geprägten postrevolutionären Gesellschaft Kubas ein, kombiniert mit im technokratischen Jargon der Revolutionsbürokratie verfassten Diagnosen und Berichten über das Entstehen einer neuen Gesellschaft mit Einblendungen zu im Bau befindlichen Neubauvierteln. Jede der revolutionären Gruppen beteiligt sich an den kollektiven Aktionen. Ein zeithistorischer Film, der durch seinen experimentellen Zugang eine mitreißende Lebendigkeit ausstrahlt.
        Wie sich in der Programmierung widerspiegelt, wird daran gearbeitet, die Position der Regisseurinnen durch deren Festivalpräsenz zu stärken. Besonderen nicht alltäglichen cineastischen Genuss bot die Reihe Film as a Subversive Art 2021, die im 100-jährigen Gedenken an den in Wien geborenen legendären amerikanischen Filmkurator Amos Vogel im Filmmuseum stattfand.


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