Dead Cities?
Besprechung von »Boulevard Ecke Dschungel. Stadtprotokolle« herausgegeben von Elisabeth Blum und Peter NeitzkeElisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.)
Boulevard Ecke Dschungel. Stadtprotokolle
Hamburg 2002 (Edition Nautilus)
222 S., EUR 19,90
»Boulevard Ecke Dschungel verschränkt Stadtwelten, die – offiziell wenigstens – bislang nirgends dieselbe ,Adresse’ hatten«, schreiben Elisabeth Blum und Peter Neitzke in der Einleitung der von ihnen herausgegebenen Stadtprotokolle. Dschungel steht für den täglichen Überlebenskampf der Marginalisierten und Boulevard für Profit und Dynamik. Der Sammelband besteht aus Interviews, die (in gekürzter Form) großteils bereits in den letzten beiden Centrum Jahrbüchern für Architektur und Stadt erschienen sind. Auch die Artikel sind bis auf eine Ausnahme keine Erstveröffentlichungen, jedoch für den Band adaptiert oder übersetzt worden.
Mike Davis beginnt den Band mit seiner Analyse des 11. Septembers und gibt damit auch gleich einen Ausblick auf sein im Herbst erscheinendes Buch »Dead Cities«.
Wenig überraschend hat Davis in Bibliotheken und Filmarchiven gestöbert, um sich dem Thema anzunähern und spannt einen Bogen von H. G. Wells »War in the Air« und Frederico García Lorcas New York Gedichten über King Kong und Godzilla zu aktuellen Action Filmen und kommt zum Schluss: »Je unwahrscheinlicher die Ereignisse desto vertrauter das Bild. (...) Im Gegensatz zu der Radio-Invasion (gemeint ist Orson Wells' »Krieg der Welten« Radiosendung, Anm. C. L.) von 1938 waren Tausende von Menschen, die am 11. September ihren Fernseher anstellten, davon überzeugt, daß diese epochale Katastrophe nur eine Fernsehsendung oder ein Scherz sei.« Mit Texten von u. a. Bloch und Benjamin versucht Davis der Angst in der Großstadt auf den Grund zu gehen und verweist auf aktuelle Untersuchungen der Angstforschung, der »hippsten Nische im Wissenschaftsbetrieb«. Nicht uninteressant ist der Hinweis auf Sayyid Qutb, der im Herbst 1948 im Auftrag der ägyptischen Regierung als Bewunderer der liberalen Moderne zur Erforschung von Erziehungsmethoden nach New York geschickt wurde und als glühender Anhänger der Muslimischen Bruderschaft, entsetzt über Dekadenz, Materialismus, sexuelle Freizügigkeit und vor allem Rassismus nach Kairo zurückkehrte. Qutb, der 1966 »aufgrund erfundener Beschuldigungen, die ihm ein Komplott gegen Nasser vorwarfen, gehängt« wurde, gilt als wichtigster Philosoph des radikalen Islamismus. Mehr als unpassend ist hingegen Davis' Vergleich des Novemberpogroms der Nazis mit den Übergriffen auf (vermeintliche) Muslime in Folge des 11. Septembers. Davis prognostiziert ein Abwandern von Arbeitsplätzen aus den innerstädtischen Bereichen und in der Folge eine riesige Steuerkrise für Städte wie New York. Durch Subventionen für Entwickler und Großpächter könne die Abwanderung höchstens gebremst werden.
Niels Werbers verwendet ebenfalls den 11. September als Ausgangspunkt für seinen Artikel. Zentral ist ihm dabei, ausgehend von einer Analyse der Rolle der Massenmedien, eine Kritik an der Theorie der Weltgesellschaft, die die »nicht nur semantisch wirkungsmächtige Raumpolitik, die immer schon die andere Seite der Globalisierung ausgemacht hat und nun mit Filtern und Barrieren aller Art ... die Körper im Raum neu zu ordnen sucht (...) notorisch (übersieht)«.
Fragen der Sicherheit und die damit verbundenen Themenkomplexe (Gated Communities, Exklusion, Gefängnisgesellschaft, Überwachung, strafender Staat, Freiheitsbeschränkungen, etc.) sind auch in den meisten der weiteren Interviews und Artikel zentrale Aspekte. Besonders hervorgehoben sei hier noch Trutz von Trothas Artikel »Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten für die Zukunft des staatlichen Gewaltmonopols«. Anhand von zahlreichen Beispielen zeigt von Trotha die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols und die Entwicklung zu einer präventiven Sicherheitsordnung. Er stellt dar, wie die präventive Sicherheitsordnung die »Idee von der Einheit der gesellschaftlichen Ordnung und der ungeteilten Mitgliedschaft« aufkündigt, wie »zahlreiche Vorstellungen ..., die der westliche Verfassungsstaat spätestens seit den bürgerlichen Revolutionen« entwickelt hat, umstürzt. Die Freiheitssicherung der BürgerInnen hat keinen Wert mehr und keine VerteidigerInnen. »An die Stelle der Domestikation des staatlichen Gewaltmonopols durch ein strenges materielles und prozessuales Strafrecht und durch hohe Zugangshindernisse vor dem Raum des Privaten« wird »die veralltäglichte Kontrolle der Normadressaten« gesetzt. »Die präventive Sicherheitsordnung setzt an die Stelle der Verpflichtung des Staates, für ,Leib, Leben und Eigentum’ der Bürger die Verantwortung zu übernehmen, die Kaufkraft des Käufers auf dem Markt der ,Sicherheitsgüter’. (...) An die Stelle des Primats der Macht tritt der Vorrang des Marktes.«
Ein abschließendes Dankeschön an Wark McKenzie, der in seinem Beitrag in einem »Telegramm für Professor Foucault« zur Abwechslung einmal darauf hinweist, dass das ständig als Beispiel angeführte Panoptikum von Bentham nie gebaut wurde und es die Engländer stattdessen vorzogen »die Störenfriede in die Kolonien abzuschieben«. Ob deswegen Disziplinierungstechniken gleich als »unbedeutender Aspekt moderner Machtausübung« einzustufen sind, soll einmal dahingestellt bleiben.
Weitere Gesprächspartner und Autoren sind Robert Menasse, Hartmut Böhme, Roger Willemsen, Sighard Neckel, Josef Früchtl, Werner Sewing und Loïc Wacquant.
Elisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.)
Boulevard Ecke Dschungel. Stadtprotokolle
Hamburg 2002 (Edition Nautilus)
222 S., EUR 19,90
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.