Deep Talk! Oder: Fühle ein Erdbeben!
Besprechung der Wiener Festwochen 2022Wiener Festwochen
13. Mai - 18. Juni 2022
»Deep Talk« ist eine derzeit in der Jugendkultur gängige Redewendung für ein Gespräch mit Tiefgang. Wie läuft die Kommunikation zwischen Jugendlichen in der Gruppe und mit Erwachsenen? Wie artikulieren sich Sehnsüchte und Ängste, die ansonsten unausgesprochen bleiben? Das mit 15- bis 19-Jährigen Schüler*innen und Lehrlingen von der Künstlerin und Stadtaktivistin Anna Rispoli in einem ›Safe Space‹ entwickelte Projekt Close Encounters ist eines der ambitionierten Produktionen der Wiener Festwochen, die durch Publikumsbeteiligung zur Aufführung gelangten. Die 30-minütige Essenz aus 50 Stunden Audiomaterial der geführten Gespräche mit Jugendlichen wird via Audioplayer eingespielt. Über Kopfhörer spreche ich als Besucherin einen Teil des Dialogs nach, während die mir gegenübersitzende Jugendliche, in meinem Fall Timea Marton, enthusiastisch den anderen Part rezitiert. Gemeinsam reenacten wir die Begegnungen der Jugendlichen, verkörpern durch unseren Dialog das was Anna Rispoli erweiterte Intimität nennt. Ein komplexes, einfühlsames Projekt, das durch seinen direkten Zugang fesselt und den Ruf nach mehr solchen Initiativen in der Stadt laut werden lässt. Wie die seit der Pandemie am Wiener Karlsplatz sich zu Tausenden aufeinandertreffenden Jugendlichen zeigen, braucht es Ventile, um die durch Covid-19 verursachten Versäumnisse aufzuholen.
Die diesjährigen Festwochen machen Lust auf widerständiges Theater, bringen frischen Wind durch die Wahl von Austragungsorten wie der Kaisermühlenbucht, wo sich Astronaut Wittgenstein (eine Produktion der Dramatikerin Natasˇa Rajkovic) in die Fluten der neuen Donau wirft und mit dringlichen Fragen wie Verlust von Heimat und Desorientierung konfrontiert. Oder: Ultraficcion Nr.1 / Fracciones de tiempo vom umtriebigen spanischen Theaterkollektiv El Conde de Torrefiel, das die Imaginationsfähigkeit des Publikums erprobt. Auf einer improvisierten Raveparty mitten im Wald bringen uns Einspielungen von Bootsflüchtlingen auf dem Weg von Tripoli nach Italien in die Sogwirkung eines Realityclashes.
Die Arbeitsweise von Christoph Slagmuylder, dem Intendanten der Wiener Festwochen, ist interdisziplinär. Sein Herz schlägt für Crossover-Produktionen, für die Neucodierung der Opern-DNA und ein Theater der Erfahrung, für Kooperationen, aktivistische Zukunftskonferenzen, Inklusion, Diversität und dafür, jenen Sichtbarkeit und/oder eine Stimme zu geben, die sonst in der Weltordnung durch die derzeit herrschenden Machtverhältnisse nicht zu Wort kommen. Darin sieht er eine Lücke im Wiener Kulturgeschehen und spricht damit indirekt das an, wofür laut Wiener Stadtregierung künftig die als Ankerzentren bezeichneten Kulturzentren während des Jahres zuständig sein sollen. Längst überfällig wurde im Rahmen der Wiener Festwochen das Österreichische Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music eröffnet, das in seinem Programm einen Diskursraum zu Dekolonialisierungsfragen anbietet.
Theater, Oper, Tanz, Performance, Kunst, Musik und Gesang befinden sich derzeit auf Erneuerungskurs. Neben neuen ästhetischen und formalistischen Grammatiken und kollektiven, Gemeinsinn kultivierenden Praktiken, geht es um Inhalte wie Gewalt und Missbrauch, die Demaskierung von rassistischen und sexistischen Projektionen, Sexpositiv, Neurodiversität, Selbstermächtigung und die Omnipräsenz künstlicher Intelligenz in unserem Leben. Erfrischend gelingt der intergenerative Dialog, werden neue Positionen und Konstellationen erprobt. Mit der Courage, akut Wagnisse einzugehen, wird der Versuch gestartet, die durch Pandemie und Krieg in Europa bewirkten Zeitbruchstücke einzufangen. Anstelle der üblichen Verdächtigen aus dem deutschen Repertoiretheater lassen Theaterregisseur*innen wie Susanne Kennedy mit einer Neuinszenierung von Philip Glass’ Anti-Oper Einstein on the Beach oder Christopher Ruping mit einer radikalen Ring-Inszenierung das Publikum durch eine Drehbühne oder einen Brückenschlag in Aktion treten. Mit der Frage »Bin ich der Richtige für diesen Stoff?« betritt dessen Autor Necati Öziri, bekannt für Texte, die von Verlust und Gewalt handeln, selbst die Bühne. Die Science-Fiction-Kultautorin Ursula K. Le Guin hätte ihr Vergnügen an der futuristischen Wüstenlandschaft, der technoiden Inszenierung durch Multimediascreens und den roboterartigen archaischen Ritualen der Zahlenreihen vor sich hinsagenden oder Atemübungen ausführenden Protagonist*innen von Einstein on the Beach gefunden.
Was kommt nach dem Schweigen? Wie kann der Kampf gegen eine auf Profit ausgerichtete Weltordnung und die andauernde koloniale Gewalt aufgenommen werden? Wie kann gegen den strukturellen Rassismus des Kapitalismus und den Landraub durch Megakonzerne vorgegangen werden? Depois Do Silencio der grandiosen brasilianischen Theatermacherin Christiane Jatahy basiert auf dem Roman Torto Arado des Autors Itamar Vieira Junior und ist der finale Teil ihrer Trilogie über Gewalt. Die tiefgreifende Intensität ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte Brasiliens und deren Nachwirkungen in die Gegenwart lebt auf der Bühne von der Überzeugungskraft der Schauspieler*innen Lian Gaia und Juliana Franca und der Einbeziehung der Bewohner*innen von Emanso und Iuna durch Videoeinspielungen. Realitäten vermischen sich und gewinnen durch Live-Percussions eine Rhythmisierung, die den Körper erfasst. Vier Millionen Afrikaner*innen wurden als Sklaven im transatlantischen Handel nach Brasilien verschleppt, zehn Mal so viel wie in die USA. Depois Do Silencio entstand aus dem Protest gegen die diskriminierende Politik von Jair Bolsonaro. Um das Beenden des Schweigens geht es auch in La Enciclopedia del Delor. Tomo I: Eso Que la Salga de Aqui von Pablo Fidalgo. Als 2021 die Tageszeitung El Pais den sexuellen Missbrauch an einer galizischen Maristen-Ordensschule in den 1960er-Jahren durch Interviews mit Betroffenen an die Öffentlichkeit brachte, wurde ein jahrzehntelanges Schweigen über Faschismus in Politik, Religion und Pädagogik in der Franco Diktator durchbrochen. Als Bühnenbild wird die Sandfläche eines urbanen Sportareals für den Schauspieler Gozalo Cunill, der einen Betroffenen verkörpert und in seinem selbstbefragenden Monolog immer wieder sportliche Aktivitäten als Empowerment der eigenen Körperlichkeit setzt, zu seinem Kraftfeld.
Als Fest des Singens hat Intendant Christoph Slagmuylder die diesjährigen Wiener Festwochen angekündigt. Chöre erfreuen sich quer durch die Communitys, ob als Protest- oder Schmusechor, zunehmender Beliebtheit. Anlässlich der Eröffnung der Festwochen kam es zu einem Eklat: Unter dem Hastag #KeineBühnefürSexismus veröffentlichte der Wiener Schmusechor folgendes Statement: »Für uns als Chor stehen Gleichberechtigung, Respekt sowie die Ablehnung von Diskriminierung, Sexismus und Rassismus im Vordergrund unseres Handelns.« Der Chor lehnte das Auftrittsangebot zur Eröffnung der Festwochen ab, weil er mit dem Rapper Yung Hurn nicht gemeinsam auf einer Bühne stehen wollte. Ein Protest, der in der Eröffnungs-Programmierung der Festwochen allerdings keine Konsequenzen zeigte.
38 Produktionen, darunter zwölf Uraufführungen machten Wien vom 13. Mai bis 18. Juni zum internationalen Meltingpot eines spartenübergreifenden Festivals, das auf Diversität, Inklusivität und Teilnahme setzt. The Shadow Whose Prey the Hunters Becomes von dem inklusiven australischen Ensemble Back to Theatre, das sich gesellschaftskritisch gegen die Diskriminierung und Ausbeutung von »neurodiversen« Menschen und gegen den Begriff Behinderung auflehnt, wirft die Frage auf, von wem für uns alle relevante Entscheidungen getroffen werden. Gesellschaftskritische Themen wie sexuelle Belästigung, das Ringen zwischen Empowerment und Macht oder sprachliche Barrieren zur neurotypischen Gesellschaft und die Frage, was ist, wenn künstliche Intelligenz die Macht ergreift, leitet über zum Thema: Wie können Unbekannte miteinander kommunizieren?
Nachhaltig und lokal zu wirken, bedeutet im Jargon der Wiener Festwochen, dass internationale Künstler*innen im Rahmen von Residencies länger in der Stadt sind und sich durch das Festivalformat Mitten mit lokalen Künstler*innen und Publikum treffen. Spannend wäre eine Erweiterung des Netzwerks, sodass vermehrt auch lokale Künstler*innen an internationalen Festivals und deren AIR-Programmen teilnehmen.
Ursula Maria Probst