Dekommodifizierung und Demokratisierung der Wohnraumversorgung
Besprechung von »Wohnraum dem Markt entziehen? Wohnungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv« herausgegeben von Sebastian SchipperSebastian Schipper
Wohnraum dem Markt entziehen? Wohnungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv
Wiesbaden: Springer, 2017
160 Seiten, ca. 30 Euro
Mit Transparenten, Zelten und der Inspiration durch die 15M-Bewegung in Spanien ausgestattet, zog am 14. Juli 2011 eine Gruppe Studierender zum Rothschild Boulevard im Zentrum Tel Avivs, um zwischen Boutiquen und eleganten Häusern ein Protestcamp aufzuschlagen. Ausschlaggebend für die Aktion, die den Beginn der größten politischen Mobilisierung in der Geschichte Israels markierte, waren die exorbitant hohen Mietpreise in der Stadt. Ziel der Massenbewegung war, der tiefgreifenden Neoliberalisierung, wie sie in Israel während der letzten Jahrzehnte durchgesetzt wurde, ein neues ökonomisches System entgegenzusetzen. Während zwar auch die hohen Lebenshaltungskosten, Aspekte der sozialen Ungleichheit, ebenso wie staatliche Misswirtschaft und Korruption Gegenstand des Protests waren, bildete die Wohnungskrise den Kern der Aufstände – und den Ausgangspunkt für die Entwicklung alternativer Modelle und wohnungspolitischer Experimente. Auch in Frankfurt am Main, der zweiten Fallstudie in Sebastian Schippers Buch Wohnraum dem Markt entziehen? Wohnungspolitik und städtische soziale Bewegungen in Frankfurt und Tel Aviv, bildete die Wohnungsfrage 2011 den Ausgangspunkt eines Protestzyklus.
Wohnungskrisen, deren räumliche und soziale Polarisierung unterschiedlich ausfällt, sind jedoch weder in Tel Aviv noch in Frankfurt am Main ein neues Phänomen. Denn in der Wohnungsversorgung im Kapitalismus sind Krisen und Stockungen inhärent – ebenso wie der Widerspruch, Verwertungsinteressen des Kapitals mit der ausreichenden Reproduktion der Klasse der Lohnabhängigen in Einklang zu bringen.
An diesem Widerspruch und an den Rissen, die sich daraus ergeben, setzt der Stadtaktivist und Autor dieser Studie an und sucht nach emanzipatorischen Praktiken im Bereich der Wohnungspolitik. Gezielt fragt er, mit welcher Wirkmächtigkeit es den Protestierenden bisher gelang, nachhaltige Veränderungen in der Wohnungspolitik zu erreichen. Anspruch dabei ist, dass diese im postneoliberalen Sinne auf eine Demokratisierung und Dekommodifizierung der Wohnraumversorgung hinweisen. Dabei schließt sich der Autor, wenn er mit dem Begriff postneoliberal arbeitet, nicht einfach euphorischen Stimmen an, die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise vorzeitig das gegenwärtige Ende des Kapitalismus prognostizierten. Der Begriff wird vielmehr als Suchbegriff eingesetzt, der es ermöglicht, »strukturelle, regulatorische, hegemoniale und diskursive Verschiebungen und Brüche sowie gegenhegemoniale politische Strategien aufzuspüren, die über neoliberale Rationalitäten und Praktiken hinausweisen«. Theoretisch gerahmt wird dieses Vorhaben zu Beginn des in seiner Gesamtheit gut strukturierten Buches mit einer prägnanten, verständlich formulierten Theorieübersicht über Ansätze der Wohnungsforschung aus Perspektive der Kritik der politischen Ökonomie, den Begriff postneoliberal sowie über materialistische Staatstheorie und aktivistische, angewandte geographische Stadtforschung. Alle, die einen (theoretischen) Einstieg in die Debatte suchen, finden hier zahlreiche wertvolle Hinweise.
Um sich dem Gegenstand zu nähern, fasst Schipper zunächst gesellschaftliche Transformationsprozesse und Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt in Israel und Deutschland prägnant zusammen. Überraschend hierbei ist die durch die radikale Neoliberalisierung hervorgebrachte Transformation Israels von einer relativ egalitären, kollektivistischen Gesellschaft in den 1970er Jahren hin zu einer aktuell extrem polarisierten Gesellschaft. Dieser Wandel ging einher mit dem umfassenden Verlust an Wissen darüber, wie eine Gesellschaft kollektivistisch organisiert werden kann. Auf der Darstellung dieser Entwicklungen aufbauend sucht Schipper, ausgehend von bestehenden, transformativen Ansätzen und Politiken, explizit nach Veränderungen, die im Bereich der Wohnraumversorgung durchgesetzt wurden. Konkret heißt das nachzuverfolgen, welche Veränderungen in den Bereichen Geld (Fördermittel), Recht (Regulationsmechanismen im Miet-, Bau- und Städtebaurecht) und Eigentum (öffentliche Wohnungsbestände und Grundstücke) auszumachen sind und wie diese Veränderungen aus kritischer Perspektive zu bewerten sind. Dafür betrachtet er nicht nur Tel Aviv und Frankfurt am Main, sondern auch Neuerungen auf den jeweiligen Landes- und Bundesebenen. Deutlich wird bei der Analyse zudem, an welche Grenzen die Initiativen jeweils stoßen.
Was die untersuchten Städte außer der Formierung von sozialen Bewegungen um die Wohnungsfrage seit 2011 eint, ist ihr Status als Global City. Wie in der Publikation genauer ausgeführt wird, verfügen sie über relativ hohe, lokale Steuereinkommen und autonome Handlungsspielräume gegenüber dem Nationalstaat, die es ihnen potentiell ermöglichen, Experimente im Bereich der Wohnungspolitik zu verwirklichen. Beide Städte gelten zudem als Wegbereiter des modernen Wohnungsbaus. Obwohl die materiellen Relikte dieser Zeit – wie die Ernst May Siedlungen des Neuen Frankfurt – heute in erster Linie einen architektonischen Hype bedienen, zeugen sie dennoch von der organisatorischen und technischen Realisierbarkeit anspruchsvoller sozialer Wohnungsbauprojekte für untere und mittlere Gesellschaftsschichten. Voraussetzung ist der entsprechende politische Wille.
Sebastian Schipper ist seit einigen Jahren in der Recht auf Stadt-Bewegung in Frankfurt aktiv. Das bedeutet, dass er die Proteste dort mitverfolgt und geprägt hat. Initiativen, die sich seit 2011 in Frankfurt gegründet haben, sind beispielsweise Project Shelter, die u.a. über Hausbesetzungen für ein selbstorganisiertes Zentrum zur Unterbringung und politischen Organisierung obdachloser MigrantInnen kämpfen. Oder die Kampagne Eine Stadt für Alle! Wem gehört die AGB?, welche das Potential der derzeit stark profitorientiert handelnden städtischen Wohnungsbaugesellschaft AGB für eine soziale gerechte Stadtentwicklung thematisiert. Die Kampagne Wir sind die halbe Stadt macht darauf aufmerksam, dass mittlerweile 50 Prozent der Frankfurter Haushalte Anspruch auf eine stark schwindende Anzahl von Sozialwohnungen haben. Entsprechend seiner aktivistischen Involvierung verfügt Schipper in Frankfurt am Main über besondere Einblicke. Der Austausch mit dem Forschungsfeld war somit ein anderer als in Tel Aviv, wo sich seine Analyse weniger auf langjährige Teilnahme, sondern mehr auf Interviews stützt. Dennoch ist die Arbeit zum Buch, soweit sich das von außen bewerten lässt, auch dort in einen wertvollen kooperativen Austausch, der Perspektiven eröffnet und an umsetzbaren Alternativen und Strategien feilt, eingebunden. So wird – im Sinne der aktivistischen Stadtforschung und angewandten Geographie – Wissen über politische Strategien, mietrechtliche Eingriffsmöglichkeiten, die Rolle öffentlichen Eigentums, Modelle wie das Mietshäusersyndikat oder die Genossenschaftsbewegung zwischen verschiedenen lokalen Kontexten erzeugt und ausgetauscht. Durch diese Art der kollektiven Wissensproduktion können Formen der Dekommodifizierung und Demokratisierung der Wohnraumversorgung stetig kritisch überprüft, weiterentwickelt und neu hervorgebracht werden.
Aufgrund dieser Prozesse kritischer, kollektiver Wissensproduktion, welche den Arbeitsprozess am Buch begleiteten, lässt sich abschließend festhalten, dass Schipper, aktuell Gastprofessor am Geographischen Institut der FU Berlin, mit dem vorliegenden Buch ein Werk veröffentlicht hat, dessen Wert sich nicht allein auf die Publikation beschränken lässt. Dem entsprechend fanden die Ergebnisse des Arbeitsprozesses, die durchaus wissenschaftlichen Qualitätskriterien entsprechen, nicht nur Eingang in Fachpublikationen, sondern über zahlreiche Publikationen in Lokalzeitungen, Workshops, Stadtrundgänge oder durch einen Kurzfilm auch in bewegungsnahe Medien. Das Feld der angewandten, aktivistischen Stadtforschung eröffnet spannende Möglichkeiten zur Weiterentwicklung einer emanzipatorischen Politik und wir freuen uns schon auf weitere Werke aus diesem Bereich, die in den nächsten Jahren ihren Weg über zahlreiche Diskussionen und (langjährige) kooperative Austauschprozesse in unsere Buchhandlungen sowie zurück in die Bewegungen finden werden!
Johanna Betz