Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


Wenn sich abends die klaren Dachlinien gegen den Horizont abzeichnen, so vereinigen sich Stadt und Himmel in einem Bild, die klaren Schattenrisse der Dächer zeichnen die Grenze zum dunklen Firmament, die auch so etwas wie die Grenze zwischen Welt und Kosmos darstellen. In diesem Archetypus des urbanen Blickes zeigt sich aber nicht nur die Differenz zwischen Himmel und Stadt, die sich im Spätlicht der abendlichen Hausdächer manifestiert, sondern darin ist gleichermaßen eine Idee der Einheit und des Enthaltenseins im Kosmos erlebbar, eine Epiphanie der glücklichen Stadt. Diese Einheit der Dächer ist Ausdruck eines der letzten neutralen Raumbereiche der Stadt, einer quasi natürlichen Morphologie der Dachlandschaft, die im Wesentlichen jene positiven Charakteristika des anonymen Bauens aufwies, die durch die tradierte, uralte Kulturtechnik der Verbindung von Holz und Ziegel entstand. Gerade die Anonymität und der Verzicht auf besonderen Selbstausdruck ergeben jene Selbstverständlichkeit des Daches, die vom Verdacht der Prätention befreit, sich zwanglos in ein Gesamtbild der Dachlandschaft einfügt. Langeweile am richtigen Ort kann eine Tugend sein, da sie vom Stress des Herzeigens und Anschauens aufdringlicher und sinnloser Gestaltung entlastet. Aber gerade diese Landschaft gerät derzeit unter den zunehmenden Druck der Veränderung und problematischen Erneuerung.
Wer das Dach denkt, der muss aber das gesamte Haus denken, vor allem aber die vertikale Ordnung des Hauses, die durch die Polarität von Keller und Dachboden angelegt ist. Nun ist die derzeitige Bausituation eher dadurch charakterisiert, dass sie das Dach nicht denkt (diese anspruchsvolle Tätigkeit wird wohl eher als unheilvoller Luxus angesehen) sondern es wegplant und durch Aufstockungen sondergleichen ersetzt. Der Grund dafür liegt auf der Hand, wertvolle Baufläche ist in den Gründerzeitbezirken nur mehr nach oben zu vermehren und dort soll nun städtisches Wachstum stattfinden. Dieses Potenzial erstreckt sich über 80 bis 90 Prozent des Wiener Gründerzeitbestandes und wird nicht nur die Dachlandschaften, sondern die gesamte Stadt verändern.

Die Vertikalität des Hauses

Diese stadtpolitische Formel ist aber mit mehreren Haken versehen, die nicht nur die Gestaltung betreffen, sondern generell von einer neuen Botschaft des Sozialen begleitet wird, die etwa lautet »Sieger wohnen auf dem Dach«. Und Sieger pflegen heute kein diskretes Understatement, sondern machen von der ausdrucksvollen Mitteilung an die Umwelt »oben wohnen ist Sache der Erfolgreichen« Gebrauch. Es ist kein Zufall, dass im ersten Bezirk schon die Hälfte aller Gebäude mit einem Dachausbau versehen ist. Die luxuriöse Dachbodenwohnung wird immer mehr zum Statussymbol der ModernisierungsgewinnerInnen. Das war nicht immer so. Das Dachgeschoß war bis ins 19. Jahrhundert allenfalls Wohnort der Bedienten und des Personals. Erst im Frankreich des 19. Jahrhunderts eroberten die KünstlerInnen die Dachböden und erfanden die Atelierwohnung, zunächst einfach aufgrund der billigen Miete. MalerInnen mochten auch vom besseren Lichteinfall profitieren. Die Bohème von Paris wurde bekanntlich in der gleichnamigen Oper verewigt und der Ort der Handlung ist in zahlreichen Schlüsselszenen ein Dachbodenatelier. Das dürfte übrigens einer der frühen Fälle sein, wo KünstlerInnen erfolgreich an der Neuformatierung von Stadträumen beteiligt waren.
Der piano nobile mit seinen Repräsentationsräumen befand sich aber in den alten Palais zumeist im ersten Stock und galt vor der Erfindung des Aufzuges auch in den schöneren Gründerzeithäusern allgemein als das beste Geschoß. Rang des Geschoßes und seine Bedeutung in der Ordnung des Hauses verliefen nicht analog zur Höhe des Geschoßes, wie es der heutige Markt zumeist zeigt, sondern hatten auch mit leichter Erreichbarkeit zu tun. Ein Hinaufkeuchen in die oberen Stockwerke hätte der Eleganz der Bewegung und dem Repräsentationsbedürfnis des BürgerInnentums Abbruch getan. Erst der Aufzug trägt zur Realisierung jener kleinen Metaphysik der Wohnungsordnung im Haus bei, der zufolge die höher gelegene Wohnung als wertvoller galt. Der Dachboden jedoch war immer noch ungenutzter Raum, allenfalls mit einfachen Zimmern für Dienstboten oder Waschküchen ausgestattet. So konnten diesem Raum besondere Qualitäten des Imaginären zugesprochen werden.

Der Dachboden als der Raum des Träumers

Bachelard spricht in seinen Büchern immer wieder von der Poesie der Häuser, die sich den Wind einverleiben, die eine leichte Luftigkeit anstreben, »die auf dem Baum ihres unwahrscheinlichen Wachstums ein Nest tragen, das immer bereit ist, fortzufliegen«. Erich Neumann meinte in seiner Studie über die Archetypen, dass das Haus als kraftvoll irdisches Wesen die Anrufe einer luftigen Welt, einer himmlischen Welt registriert. Und wer die Worte des französischen Poeten Claude Hartmann über den Dachboden liest,

Die Treppe der Bäume
man steigt sie hinauf. [1]

wird daran erinnert, dass ein Dachstuhl mehr als ein technisches Tragwerk ist, dass er aus Baumstämmen gefügt wurde, die noch das Rauschen des Laubes in ihren imaginären Kronen tragen.
Der Dachboden ist aber nicht nur jener Ort, der aufgrund seiner Himmelsnähe dem Träumer zur Einbildung und Erbauung dient. Er ist auch ein Ort, der die Spuren vergangener Generationen in alten Truhen aufbewahrt und so zu Träumereien über das Leben der Vorfahren anregt. Deren Präsenz wird plötzlich spürbar:

In einigen Winkeln
des Dachbodens fand ich
lebende Schatten
sich bewegend. [2]

Auch die Abschirmungsfunktion des Daches, die uns zunächst so selbstverständlich scheint, geht tief in die Psychologie des Hauses ein. Der Winkel der Dachneigung war in früheren Zeiten ein untrügliches Zeichen für die klimatische Situation des Landes, sodass er in die Signatur der Kulturlandschaft einging. Insofern wird die von ArchitektInnen seit bald hundert Jahren gescholtene, mitteleuropäische Ablehnung des Flachdaches verständlicher, als sie den Code einer fundamentalen Abschirmung der Innengegen die Außenwelt zu retten versucht. Die Konstruktion des Dachstuhles ist immer noch eine nahezu archetypische Handlung, in der Bauen und Wohnen verschmilzt. Zimmermann ist einer jener uralten Berufe, die aus dem Haus mit seiner ursprünglichen Einheit von Bauen und Hausen heraus entstanden sind. Es ist kein Zufall, dass er selbst im wirkungsmächtigsten Mythos der Weltgeschichte, dem Christentum präsent ist. Jesus war zunächst wie sein Ziehvater Josef ein Zimmermann, muss also vielfach mit dem Herstellen von Dachstühlen befasst gewesen sein.

Die Anthropomorphie des Hauses: Die Fassade als Gesicht

Aber die Vertikalität der Ordnung gilt ebenso für das Äußere des Hauses. Die Fassade ist kein leeres Wort, sondern ein exakter Begriff, dessen sprachliche Herkunft vom französischen face abgeleitet wird und »Gesicht« bedeutet. Aber auch dies wird vermutlich in seiner originären Bedeutung kaum verstanden und als beliebige Metapher angesehen. Daher muss an dieser Stelle eindringlichst eine Erkenntnis der Anthropogenese ins Gedächtnis gerufen werden. Nämlich die, dass der Prozess der Menschwerdung wesentlich auch durch eine Entwicklung der Gesichtswerdung charakterisiert wird. Das erinnert daran, dass durch den Prozess der Protraktion – also dem Herausziehen – aus den Tierschnauzen der Hominiden Menschengesichter werden konnten, dass sich die Menschen in einem langfristigen evolutionären Prozess durch gegenseitiges Anschauen aus der Tiergestalt herausgezogen haben. Dieses gegenseitige Sich- Anblicken ist auch heute noch unerlässlich. Ein Säugling ohne das rooming-in, jener nachgeburtlichen Mutter-Kindsphäre also, in der durch das so genannte bonding, das gegenseitige sich Anstrahlen von Mutter und Kind eine spezifische Intimsphäre geschaffen wird, hätte keine Entwicklungschancen.
Anthropogenese ist daher ohne Gesichtswerdung nicht denkbar und die Ausbildung der Vorderseite des Kopfes zu einem Gesicht begründete nicht nur eine faciale Geschichte als einem Zeichen eigener Identität, sondern auch die eines sozialen Mediums.[3] Von der Physiognomik bis hin zur modernen Karriere des Gesichtes durch die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit und der damit verbundenen Entwicklung des »Image«, finden wir jene spezifisch menschliche Fähigkeit zur Erkennung eines Gesichtes als der besonderen Gestalt und Qualität anderer Wesen. Dieser phänomenale Zeichencharakter des Gesichtes hat eben auch in einer Anthropomorphie des Hauses Eingang gefunden. Zunächst beruht der anthropomorphe Charakter der Fassade auf der organischen Achsenbildung mit seiner links-rechts und oben-unten Differenzierung, die der des Gesichts entspricht. Noch wesentlicher ist die Differenzierung des Hauses in eine Vorderseite, eben das Gesicht und in eine Rückseite, womit eine fundamentale Trennung zwischen dem was gezeigt und dem was nicht gezeigt wird, getroffen wird. Diese primäre, einfache und zugleich perfekte Differenzierung zwischen dem privaten und öffentlichen Raum hat also eine faciale Analogie, wenn nicht gar ihren Ursprung.
Weil das Gesicht von vornhinein nie für das Individuum, sondern stets für die anderen gemacht ist, zeichnet sich auch eine Tendenz zur Überkodierung und Maskenhaftigkeit ab. Und den Vorwurf der Maske musste sich auch das Gründerzeithaus durch die ArchitektInnen der Moderne machen lassen. Das Odium, das dem Gründerzeithaus vor allem in Arbeiterbezirken anhaftet und auf der historischen Rolle des proletarischen Hauses und seinen damals zutreffenden räumlichen und hygienischen Defiziten beruht, ist immer noch existent. Der vermeintlich verlogenen Repräsentation durch eine Fassade, hinter der sich das soziale Elend abspielte, setzte man die ehrliche Sprache der Moderne entgegen, und durch das vielfache Abschlagen der Ornamente wurde die Demolierung des Hauses symbolisch schon vorbereitet. Man konnte damals die umgekehrte Lesart dieses Sachverhaltes nicht verstehen: Dass nämlich selbst des kleinen Proletariers Wunsch nach Repräsentation menschliche Größe zeigte, indem er sein materielles Elend nicht der Öffentlichkeit preisgeben mochte. Die Fassade bot eben auch Schutz und verhinderte die Bloßstellung und die Sichtbarkeit des zivilisatorischen Absturzes.

Hausbesetzung von oben

Wie sich die neuen großflächigen Ausbaupläne des Daches auf die Haus- und Fassadenstruktur auswirken werden, bleibt vorläufig dahingestellt, lassen aber wenig Gutes erwarten. Denn aufgrund des wachsenden Repräsentationsbedürfnisses der neureichen DachvillenbesitzerInnen werden sie sich nicht mit dem stillen Genießen des Luxusraumes zufrieden geben, sondern dies auch der Umwelt mitteilen wollen. Daher steht zu befürchten, dass im Zuge einer Überbietungsstrategie der Fassade die Ästhetik der protzigen Vorstadtvilla gnadenlosen Einzug am Dach halten wird, um zu zeigen, dass hier jemand wohnt, der seinen Erfolg nicht zu verstecken braucht. Es könnte aber auch sein, dass zukünftige Yuppiegenerationen eher nach dem Prinzip der Landung einer Raumkapsel am Dach agieren werden und auf diese Weise den Satz, den Baudrillard von der Satellitisierung der Stadt ausgesprochen hat, im engsten Sinne des Wortes wahr machen. Die Hausbesetzung von oben durch das Kapital ist die urbane Realität der nächsten Jahre.

Fußnoten


  1. Claude Hartmann, Nocturnes ↩︎

  2. Pierre Reverdy, Plupart du Temps, S. 88,v. A. übers., zit nach Gaston Bachelard, La terre et les rêveries du repos. Paris 1948, S 109 ↩︎

  3. Manfred Russo, Das Gesicht als soziales Medium. Vortrag gehalten am österr. Soziologiekongress 2000 in Wien. ↩︎


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