Der Essay als Form
Besprechung von »Untitled (Experience of Place)« herausgegeben von Gregor NeuererGregor Neuerer (Hg.)
Untitled (Experience of Place)
London: Koenig Books, 2003
256 S., EUR 25,-
Untitled (Experience of Place) heißt ein von Gregor Neuerer herausgegebener Band, der KünstlerInnenbeiträge und Texte enthält, die lose um die Idee des »Ortes« kreisen. Konkreter geht es dabei meist um urbane Situationen und um ihre Nutzung, die parallel zu oder entgegen geplanter Strukturen verläuft.
So zeigt Michael Ashkins Beitrag Bilder aus den postindustriellen Meadowlands von New Jersey, verlassen und von der Natur zurückerobert; einzig jugendliche Gangs nutzen den Ort noch, etwa um gestohlene Autos zu Schrott zu fahren.
Eine ganz andere Veränderung von Nutzung, Bedeutung und Aussehen eines Ortes hat Alvar Aaltos 1927 im damals finnischen Viipuri erbaute Bibliothek erfahren. Nachdem das Gebäude Anfang der 1940er Jahre im finnisch-russischen Krieg schwer beschädigt wurde, wurde die Stadt 1944 von der Sowjetunion annektiert und heißt seither Vyborg. Die Bibliothek wurde 1961 stark verändert wieder eröffnet und steht nun auf einer Top-100-Liste des World Monuments Fund, der eine akkurate Rekonstruktion fordert. Die Künstlerin Liisa Roberts arbeitet in ihrem Projekt »What’s the time in Vyborg« seit 2000 mit BewohnerInnen Vyborgs, ArchitektInnen und WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen an einer vielstimmigen Erzählung des Ortes, etwa in einem Schreib-Workshop mit Jugendlichen. Ihr Beitrag für Untitled (Experience of Place) beinhaltet die Transskription eines Gesprächs mit Alexandr Mihailovich Shver, dem Architekten, der 1957-61 für den Wiederaufbau des Hauses verantwortlich war. In einem Rundgang durch das Haus beschreibt er die damaligen Eingriffe und Veränderungen sowie seine Erinnerungen an den Urzustand des Gebäudes, über den nur unvollständige Unterlagen vorliegen.
Anita Witeks Beitrag mit dem Titel »Before and After« ist ebenfalls eine Form der Geschichtsschreibung. Er versammelt Abbildungen von Fotostudios. In nicht ganz chronologischer Reihenfolge erzählen die Abbildungen von 1864 bis 2003 eine Geschichte eines Raumtypus, der immer ein Anderswo repräsentiert und als Hintergrund für ganz verschiedene Projektionen dient – vom Salon oder der starren Naturkulisse des 19. Jahrhunderts und der Frage nach der bestmöglichen Ausnützung des Sonnenlichtes hin zum aufwändig beleuchteten, schneeweißen Fotostudio der Moderne, das mit der charakteristischen abgerundeten Raumkante seine eigene räumliche Begrenzung zumindest im Abbild überwindet.
Von der Londoner Gruppe Inventory gibt es mehrere Texte, eine Reihe kurzer Stadt-/ Raumbeobachtungen aus ihrer Zeitschrift Inventory mit Titeln wie »Estate Map«, »Flesh and Stone« oder »Tagging« sowie einen längeren Artikel über Elephant and Castle, ein Einkaufszentrum im Süden von London. 1965 gebaut und seitdem mit kleineren und größeren Anpassungen beständig erfolglos, sieht es nach der kulturellen Aufwertung der Londoner South Bank durch die Tate Modern und das Globe Theatre einem erneuten Schub von Ideen und Hoffnungen entgegen.
Der Band enthält auch einen Beitrag von Matthew Buckingham zu seinem Film »The man of the crowd«, der letztes Jahr im Wiener MUMOK in einer Einzelausstellung präsentiert war. Nach Edgar Allen Poes gleichnamiger Erzählung drehte Buckingham in schwarzweiß die Geschichte eines Mannes, der einen Unbekannten in London eine Nacht lang auf der Straße verfolgt, um schließlich fasziniert festzustellen, dass dieser die Stadt ohne bestimmtes Ziel durchstreift. Die kurze Erzählung, von Baudelaire ins Französische übersetzt, war für diesen von großem Einfluss für sein und später auch Walter Benjamins Konzept des Flaneurs. Der Text, aus der Perspektive des Verfolgers geschrieben, schließt mit der Erkenntnis: »The old man (...) is the type and the genius of deep crime. He refuses to be alone. He is the man of the crowd.«
Die Einführung Jan Verwoerts nimmt, mit nur oberflächlicher Bezugnahme auf die einzelnen Beiträge, dennoch eine Metaposition ein. Unter dem Titel »Research and Display: of Transformations of Documentary Practice in Recent Art« liefert Verwoert einige Ansatzpunkte für eine breitere Diskussion und Standortbestimmung dokumentarischer künstlerischer Arbeiten. Er verwendet dazu auch den Begriff des Essays (die Beiträge des Buches sind explizit als Essays bezeichnet), mit dem Adorno jene Methode definiert, die der linear objektivierenden Wissenschaftlichkeit ein Modell assoziativen und den Rezipienten und seine Erfahrungen miteinbeziehenden Arbeitens entgegensetzt.
Eine Methode, die dem schwergewichtigen Band auch inhaltlich jene, allerdings ernsthafte, Leichtigkeit gibt, die seine ansprechende grafische Gestaltung auf den ersten Blick verspricht.
Mit Beiträgen von Michael Ashkin, Matthew Buckingham, Tacita Dean, Jonathan Hill, Inventory, Steven Jacobs, Luisa Lambri, Kirsti Reskalenko and Liisa Roberts, Claudia Wegener, Anita Witek, Johannes Wohnseifer
Gregor Neuerer (Hg.)
Untitled (Experience of Place)
London: Koenig Books, 2003
256 S., EUR 25,-
Andreas Fogarasi ist bildender Künstler und Redakteur von dérive.