Antje Lehn

Antje Lehn ist Architektin und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der Stadt als Wissensraum, der Raumwahrnehmung von jungen Menschen, emanzipatorischen Lernräumen und partizipativen Kartierungsmethoden.


Auf dem Cover sehen wir eine Frau an einem Tisch, der mit großformatigen Zeichnungen bedeckt ist. Mit dem Stift in der Hand arbeitet sie konzentriert an einer Art Landkarte. Das Foto illustriert, wie die Kartographin und Geologin Mary Tharp akribisch Vermessungsdaten mit räumlichen Informationen zusammenführte. Ihre Karte machte 1957 erstmals Muster in der Topographie des Meeresbodens sichtbar, mit denen die umstrittene Theorie der Kontinentalverschiebung bestätigt wurde. Was die Karte nicht zeigt, sind die institutionellen Widerstände, mit denen die Forscherin kämpfen musste, weil ihre Erkenntnisse dem geltenden Wissensmonopol an US-amerikanischen Universitäten widersprachen. Ebenso bleibt verborgen, dass Mary Tharp ihre wissenschaftliche Ausbildung als Geologin nur auf Umwegen erhielt. Bereits als Jugendliche lernte sie ein Gelände zu kartieren, als sie ihren Vater, der selbst Autodidakt war, bei seiner Arbeit als Bodengutachter begleitete. An der Universität wurde sie aber ›nur‹ als Zeichnerin eingesetzt, da sie als Frau nicht ernstgenommen wurde.
       Durch den Einfluss von Foucault und Derrida setzte sich seit den 1980er Jahren die Einsicht durch, dass strukturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten die Aussage von Karten mitprägen. Die Kritische Kartographie etablierte das Verständnis, dass Karten nicht nur Ausdruck von (Macht-)Verhältnissen sind, sondern diese auch mitproduzieren. Die Objektivität von Karten war fortan in Frage gestellt. Das Handbuch Kritisches Kartieren lenkt den Blick auf die Produktion von Karten, die Karte als Objekt tritt in den Hintergrund. Der Prozess selbst, also wie räumliche Daten erzeugt werden und wer sie interpretiert, welche Kartenelemente bei der Visualisierung dargestellt oder ausgelassen werden, wird zum Gegenstand der Forschung. Das Handbuch enthält zwanzig Beiträge, in denen Erfahrungen aus der Praxis geschildert, aber auch Methoden theoretisch verankert werden. Ein Schwerpunkt liegt auf digitalen Karten, die für die Repräsentation raumbezogener Forschung oder als Werkzeug der Analyse angewendet werden.
       Die Herausgeber Finn Dammann und Boris Michel sind Geographen, die u. a. zu digitalen Werkzeugen der Kartographie forschen. Die Autor*innen des Handbuchs kommen großteils aus der Humangeographie, Geographiedidaktik oder der Stadtforschung. Ihre Beiträge verhandeln eine große Bandbreite von Themen, sie geben Perspektiven auf Drogenkonsum, Migrationshaft und Räume der Gewalt, und eröffnen aktivistische Zugänge zu Feminismus, Erinnerungskultur oder Fahrradmobilität. In vier Kapiteln wird zwischen gleichberechtigten, erzählenden, bildenden und digitalen Kartierungsmethoden unterschieden. Auch wenn die Aufteilung nicht immer zwingend ist, und einige Themen auch quer dazu gelesen werden können, will ich hier dieser Struktur folgen.
       Im ersten Kapitel geht es um Ermächtigung benachteiligter Gruppen und ihre Sichtbarmachung hinter der physischen ›Realität‹ des Raumes. Diese Gruppen werden als Expert*innen angesprochen und dabei unterstützt, für sich selbst zu sprechen. Das gemeinsame Kartieren wird als potenziell demokratische Forschungshaltung beschrieben, die aber Lernbereitschaft und Kritikfähigkeit aller Beteiligten voraussetzt. Die Forschenden geben der Offenlegung des eigenen Standpunktes, der eigenen Privilegiertheit und den damit verknüpften Herausforderungen viel Raum.
       Im Kapitel Räume erzählen werden Karten als Werkzeuge für einen künstlerisch-suchenden Forschungsmodus dargestellt. Ein Schattentheater-Projekt mit indigenen Kindern illustriert eindrucksvoll die Methode des narrativen Kartierens. Über das spielerische Konzept wird raumbezogenes Wissen trotz Sprachbarrieren und unterschiedlicher geographischer Expertise zugänglich. Der körperlich-sinnliche Zugang und die Mehrdeutigkeit der künstlerischen Darstellung werden als produktiv für die sozial- und kulturwissenschaftliche (Stadt-)Forschung empfunden. Übereinstimmend wird künstlerisches Kartieren als Methode beschrieben, die dafür geeignet ist, sich mit Orten auseinander­zusetzen und dabei etwas zu lernen.
       Im Kapitel Die Welt anders verstehen wird ein bildungspolitischer Anspruch der mündigen Raumaneignung für alle Altersstufen verfolgt. Kritisches Kartieren im Sinne einer ›Spatial Citizenship‹ wird in der Universität, in der Schule und in der Jugendarbeit eingesetzt. Besonders die kartographische Arbeit mit Kindern wird als bereichernde Praxis beschrieben, die Lernprozesse bei allen Beteiligten auslösen kann. Sogenannte ›Gegenkartierungen‹ stellen die Neutralität von Karten in Frage und stehen oft im Widerspruch zur etablierten Wissensproduktion. Karten, die die Lebensrealität von Jugendlichen einbeziehen oder die Hierarchien der Institution herausfordern, können in der Schule auch zu Konflikten führen.
       Der Verweis auf die zögerliche Anwendung des digitalen Kartierens im Geographieunterricht leitet zum letzten Kapitel über, das sich mit der kritischen Nutzung von Geoinformationssystemen befasst. Digitale Karten sind heute zugänglicher und vielfältiger als noch vor 20 Jahren, neben kommerziellen und staatlichen gibt es crowd-basierte Datenquellen wie beispielsweise Open Streetmap. Wenn die Entstehungsbedingungen raumbezogener Daten aber nicht kritisch hinterfragt werden, können bei ihrer Verwendung gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert werden.
       Dieses Handbuch ist empfehlenswert für alle, die sich für das kritische Kartieren als Forschungsmethode interessieren. Leider wird die Zugänglichkeit einiger Texte durch eine hochspezialisierte Sprache eingeschränkt, womit im Grunde ein Widerspruch zum emanzipatorischen Bildungsansatz entsteht, auf den sich viele Autor*innen berufen. Sehr positiv ist die Offenlegung methodischer Details der Wissensproduktion, und die selbstkritischen Berichte über Erfahrungen und Grenzen beim forschenden Kartieren. Das ermutigt dazu, eigene Methoden aus der Praxis zu entwickeln, also auch explorativ zu arbeiten.


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