» Texte / Der Schwedenplatz und die Raumbildung gesellschaftlicher Verhältnisse

Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Wien ist aus städtebaulicher Perspektive nicht gerade für seine Plätze berühmt. Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine Gegend als ein Platz, so urteilte angeblich zumindest Otto Wagner. Den Rathausplatz bekommt man als solchen kaum einmal in den Blick, weil darauf mehr oder weniger ganzjährig irgendwelche Events stattfinden. Der Reumannplatz fällt auch eher in die Kategorie Gegend. Der Yppenplatz hätte räumlich zwar das Potenzial zur Piazza, ist aber mittlerweile ein einziger Gastgarten. Der Praterstern ist eine Verkehrshölle, was ein Drama ist, denn der Platz hätte ungeheures Potenzial für einen fantastischen Ort.
Ein weiteres Drama ist die mediale Berichterstattung über die Wiener Plätze: Sowohl der Karlsplatz und der Praterstern als auch der Schwedenplatz werden oder wurden teils jahrelang als gefährliche Orte gebrandmarkt, weil sich dort Menschen aufhalten, die den herrschenden Vorstellungen wie man auszusehen hat, sich zu benehmen hat, was man zu konsumieren hat und wie man seine Freizeit zu verbringen hat, nicht entsprechen. Die medial erzeugten Bilder verfestigen sich vor allem bei den Menschen, die die Plätze gar nicht kennen oder nutzen und haben immer wieder zu baulichen oder sicherheitspolitischen Maßnahmen geführt, die die Verdrängung unerwünschter Bevölkerungsgruppen zur Folge hatten.
Der Schwedenplatz, dem die vorliegende Publikation gewidmet ist, ist insoferne für Wien typisch, als auch er nicht der Vorstellung eines Platzes entspricht, hat man einen klassischen italienischen Platz als Vorbild vor Augen. Auch er wurde jahrelang als Angstraum beschrieben, was sich irgendwann tatsächlich in den Köpfen festgesetzt hat, obwohl er diesbezüglich in der jüngeren Vergangenheit sein Topranking an den Praterstern abgeben musste.
Den Schwedenplatz überhaupt als Platz wahrzunehmen, ist schon schwierig. Die Grenze zum Morzinplatz ist räumlich nicht wahrzunehmen und der angrenzende Franz-Josefs-Kai entspricht nicht dem klassischen Abschluss eines Platzes – vielmehr war der Schwedenplatz ursprünglich nicht mehr als eine Erweiterung des Kais. Die langgezogene Form des Schwedenplatzes ebenso wie die vielen Kioske, U-Bahn- sowie Parkgaragenauf- und abgänge, Entlüftungsschächte, der Busparkplatz und die Straßenbahnhaltestellen verhindern das Raumgefühl, das ein klassischer Platz vermittelt. Seine heutige Form erhielt der Schwedenplatz erst in der Nachkriegszeit durch den Abriss einiger Häuser, die im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt worden waren.
Wenn der Schwedenplatz nicht durch seine städtebauliche Form punkten kann, so tut er das ganz sicher als lebendiger urbaner Ort. Kaum ein anderer Wiener Platz ist rund um die Uhr so bevölkert wie der Schwedenplatz. Das hat einerseits mit den beiden U-Bahn- und mehreren Straßenbahnlinien zu tun, die hier ihre Stationen bzw. Haltestellen haben, andererseits aber vor allem auch mit dem Umstand, dass in der Umgebung ein intensives Nachtleben herrscht und der Schwedenplatz die NachtschwärmerInnen 24/7 mit Fastfood und Getränken versorgt. Nicht zufällig war er ursprünglich auch Abfahrtsort aller Wiener Nachtbuslinien.
Rudi Gradnitzer hat sich für seine sozialräumliche Studie über den Schwedenplatz nicht eine Betrachtung des kompletten Platzes vorgenommen, sondern einzelne prototypische Aspekte ausgewählt. Das sind einerseits Gebäude: der Gemeindebau Georg-Emmerling-Hof, das Hotel Capricorn, der Raiffeisen-Tower und andererseits die Wiener Verkehrs-betriebe und die visuelle Kommunikation am Schwedenplatz und am angrenzenden Donaukanal.
In seiner Studie geht es dem Autor »um die Dechiffrierung von architektonisch gestützten Machtstrukturen und historischen Prägungen am Beispiel des Schwedenplatzes. […] In diesem Sinne ist die Untersuchung als kritischer Beitrag zum besseren Verständnis des Bestehenden zu lesen«, und weiter sich auf Adorno berufend, »mit dem ausdrücklichen Ziel seiner Beseitigung«. Zu diesem Zwecke bedient sich Gradnitzer bei Henri Lefebvre, der in seinen Schriften zu Stadt und Raum immer hervorhob, dass Raum nicht einfach existiert, sondern dass er produziert wird. Lefebvres Modell der Triade folgend, untersucht Gradnitzer jeweils den konzipierten, den materiellen und den gelebten Raum, was sich als sehr fruchtbarer Ansatz erweist. Neben diesem zwar in der Theorie in Stadtforschungskreisen mittlerweile weithin bekannten, aber praktisch eher selten angewandten Modell, ist die Breite der für die Studie verwendeten Literatur als besonders bemerkenswert hervorzuheben. Sie umfasst architekturhistorische ebenso wie zeitgeschichtliche, gesellschaftspolitische wie stadttheoretische, philosophische wie biographische Werke. Das führt beispielsweise dazu, dass im Kapitel über den im Roten Wien errichteten Georg-Emmerling-Hof nicht nur das Rote Wien und die österreichische Architekturgeschichte Thema sind, sondern – die Ansätze vergleichend – ebenso über die parallelen Entwicklungen in der Sowjetunion zu lesen ist. Superblock, Gartenstadt, Wohnhaus-Kommune und die Revolutionierung des Alltagslebens kommen ebenso vor wie der Umstand Erwähnung findet, dass das Parteilokal der SPÖ in den 1990ern geschlossen wurde und heute eher Graffiti als Anschläge mit Informationen den gelebten Raum ausmachen. Vermissen könnte man höchstens O-Töne von Bewohnern und Bewohnerinnen des Gemeindebaus.
Ein dem Autor besonders wichtiges Anliegen ist es, den nationalsozialistischen Anteil der österreichische Architekturgeschichte zu beleuchten und immer wieder auf die fließenden Übergänge von Karrieren im Nationalsozialismus zu solchen in der Nachkriegszeit aufmerksam zu machen. Das ist insoferne von Bedeutung, als das Bewusstsein dafür, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nach wie vor Auswirkungen auf diese Stadt haben, viel zu wenig stark ausgebildet ist. Gradnitzer zeigt es am Beispiel des gebauten Schwedenplatzes und verweist – Friedrich Achleitner zitierend – darauf, dass 50 Prozent der an der Wiener Werkbundsiedlung beteiligten ArchitektInnen von den Nazis ermordet oder vertrieben wurden und dass diese die in der Zwischenkriegszeit fortschrittlichsten waren.
Ein weiterer Strang, der sich quer durch das Buch zieht und dem der Autor im Exkurs über visuelle Kommunikation mehrere Seiten widmet, ist die Auseinandersetzung mit Graffiti. Der Autor sieht darin weit mehr als eine künstlerisch-jugendkulturelle Ausdrucksform. Graffiti-Writer bezeichnet er als »die legitimen Verteidiger des konkreten, gelebten, sozialen Raumes, die Mittels Dérives und direkten, farblichen Eingriffen den öffentlichen Raum beleben und dem Urbanismus im Sinne von Stadt- und Raumplanung, Architektur und Sozialmanagement entgegentreten«.
Insgesamt gelingt dem Autor in dem mit knapp 200 Seiten nicht ausufernden Band eine exemplarische und dichte Auseinandersetzung mit dem Schwedenplatz, die trotz der Fülle an Ausführungen gut lesbar ist und viele Tipps für die eigene Leseliste enthält. Wer den Schwedenplatz allerdings gar nicht kennt, sollte ihn dennoch auf jeden Fall selber besuchen, um seine Atmosphäre kennenzulernen; am besten tagsüber und in der Nacht – für Speis und Trank ist gesorgt.


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