Ljubomir Bratić

Ljubomir Bratić lebt als Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist, Aktivist und Flüchtlingsbetreuer in Wien.


Vielleicht hatten Sie schon einmal den Gedanken, dass in Wirklichkeit alles egal ist, da wir sowieso nach Mexiko, jedenfalls irgendwohin weit weg, auswandern können und mit dem ganzen Wahnsinn nichts mehr zu tun haben werden. Es ist eine komische Idee, denn es ist nicht klar, warum aus dem Umstand, dass hier ein paar Menschen weniger sein werden, folgen soll, dass nichts von dem, was vor uns Hier und Jetzt passiert, von Bedeutung ist. Wir denken in solchen Momenten offenbar, dass wir uns in einer Art Schiff befinden, in dem wir ununterbrochen rudern, Ziele verfolgen und aus dem Leben etwas machen wollen und können. Das alles aber nur dann eine Bedeutung hat, wenn es sich sofort realisiert. Selbst wenn wir dieses, wie Otto Neurath es treffend ausdrückte, sowieso ohne Ziel fahrende Schiff verlassen könnten, wird sich nichts an seinem Herumirren ändern. Abgesehen davon, dass wir in Mexiko nicht das finden werden, was wir hier vermissen.
So gesehen ist es an und für sich egal, wo wir uns befinden. Sie werden sagen, ja, an und für sich schon, aber FÜR MICH nicht. Und ich könnte darauf mit der Frage antworten, was dieses »mich« ist, aber das ist eine Diskussion, die woanders zu führen wäre. Was ich hier sagen will, ist, dass wir nicht einmal auf den Bruchteil einer Wirkung auf das Gesamte setzen dürfen. Und trotzdem, wenn etwas von dem, was wir tun, einen Sinn haben soll, dann haben wir es in unserem Engagement zu suchen. Warum ist das für uns überhaupt ein Problem?
Wir können bezüglich vieler Sachen, die wir tun, erklären, wo sie wirksam sind, und damit ihren Sinn begreifen. Wir essen, weil wir hungrig sind, schlafen, weil wir müde sind, lesen, weil wir ästhetische Vergnügung brauchen oder die Funktionsweise des Empire besser durchschauen wollen, arbeiten, weil es alle tun oder – wie die meisten – auch wir das machen müssen usw. Ich vermute, dass wir, wenn wir das alles nicht tun könnten, sehr schlecht gelaunt wären. Nun tun wir das alles und wir sind trotzdem schlechter Laune und wollen aus Österreich auswandern. Worin liegt das Problem? Es liegt daran, dass es zwar innerhalb unseres Alltags Erklärungen für die meisten unserer Handlungen gibt, dass es jedoch keine endgültigen Erklärungen für unser Engagement außerhalb, in Gruppen, für die Gesellschaft, in der wir leben, als Ganzes gibt. Unsere Aktivitäten sind Teil der Schifffahrt, die wir selber nicht steuern können. Und wenn das Ganze, so wie in letzter Zeit Österreich, sich gegen die gesamten Entwicklungen in den letzten vierzig Jahren, gegen die Zeit unserer Sozialisation, zu wenden beginnt, dann fangen wir an, über die ganze Sache, das Schiff, nachzudenken, und das scheint überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Das Boot streut herum, manchmal schmeißen die Kapitäne einige weniger, manchmal viele mehr ins Meer, und die Matrosen, zu denen wir uns zahlen dürfen, sind belustigt, manchmal fotografieren sie es, manche sind beängstigt, und wiederum manche, ich wage zu sagen ganz wenige, sind nachdenklich. Von Mexiko betrachtet wäre es ganz egal, ob wir dabei sind oder nicht. Die Rituale, dass manche, mit verbundenen Augen, den hungrigen Haien vorgeworfen werden, würden sowieso passieren. Aber wenn wir nicht hier sind, dann werden wir wenigstens sagen können, dass wir nicht mitgemacht haben, ergo tragen wir auch keine Mitschuld.
Selbstverständlich ist unsere Anwesenheit hier für unsere Bekannten, FreundInnen nicht egal, doch als Ganzes betrachtet - da wir gegen das Ins-Meer-Schmeißen nichts tun können - hat das keine Bedeutung. Es ist wie es scheint zu sein, egal, was sich dazwischen noch ereignet. Wir unterstützen uns gegenseitig, doch das tut nichts zur Sache. Denn sie scheint mit uns oder auch ohne uns ihren Lauf zu nehmen.
Klar können wir uns zurückziehen und sagen, dass es sinnvoller wäre, wenn wir persönlich zu den Menschen, die später den Haien verfüttert werden, nett sind; vielleicht als GefängniswärterInnen, wenn wir uns verbal oder in unseren Schriften gegen die Abschiebung und Tötung von AsylwerberInnen aussprechen. Mehr brauchen wir nicht, um unser Gewissen zu beruhigen. Doch diese Antwort befriedigt uns nicht, denn sie zieht nur, insofern es uns gelingt, über die Gesellschaft, die Sache als solche, als Ganzes nicht nachzudenken. Sofern wir aber damit beginnen, öffnen wir die Büchse von Pandora, die dem/der BetrachterIn bekanntlich vor allem eines vorführt: seine/ihre Hilflosigkeit.
Der Gedanke, dass wir in Mexiko sein könnten, ist nur eine der Möglichkeiten, unsere Handlungen so zu betrachten, als wenn sie in einem größeren Kontext wären. Es ist nichts mehr als eine Flucht.
Das Problem liegt teilweise bei uns selbst, in unserer Neigung, das, was wir tun, überernst zu nehmen. Und wenn es uns nicht gelingt, sofort etwas zu bewirken, dann verzweifeln wir daran. Denn wir klopfen uns tagtäglich nicht nur ständig bestätigend auf die Schulter, sondern schauen uns selbst auch - und das ist das Verhängnisvolle - über die Schulter und versuchen so, etwas mehr nachzuvollziehen, was und wo wir sind.
Das ist kein Plädoyer fürs Nachgeben, denn mir ist bewusst, dass viele unserer Anstrengungen genau aus dieser Frage nach der Bedeutung des Ganzen entspringen, und sollten wir aufgeben, würden aus unserem Schiff noch mehr Menschen den Haien zum Fraß vorgeworfen werden.

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie wir uns überzeugen können, dass die Handlungen, die wir setzen, doch einen Sinn haben. Wir können uns zum Beispiel politisch in einer oder mehreren antirassistischen Organisationen betätigen. Wenn wir uns in einer solchen Organisation beteiligen, so könnten (und werden) wir uns am Ende noch immer fragen, welche Bedeutung diese Gruppe oder Organisation hat. Die Antwort darauf kann wiederum auf eine noch größere Organisation hinweisen oder nicht. So perpetuiert sich die Frage, bis sich am Ende herausstellt, dass es keine feststehende Bedeutungen mehr gibt.
Wir können hoffen und etwas gegen die Haie unternehmen. Sie wegdenken, indem wir sie verlassen, werden wir nicht schaffen. Wir können nur die Bedeutung unseres Handeln im Großen suchen und feststellen, dass es genau so unklar ist wie klar. Vielleicht sollten wir einfach stehen bleiben und fragen, warum es nicht sein darf, dass wir die Unsicherheit akzeptieren. Und anschließend den Hunden einmal mit voller Wucht ins Gesicht treten. Wir sollten um uns herum genau schauen und die Rechtfertigungen für die Benachteiligungen anderer Menschen innerhalb des Schiffes und innerhalb der Machtbeziehungen, die wir aufgebaut haben und an denen alle mitbeteiligt sind, mit denen wir im Verbindung stehen, in die Luft sprengen! Und die Fragen genau da enden lassen.


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