Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


Was haben die Pariser Commune und das Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) gemeinsam? 2021 feierte die Commune ihren 150. Geburtstag und das Forum Freies Theater die Eröffnung seines neuen Standorts mit einem Stadtlabor: Place Internationale. So nannten die Kommunard:innen den Place Vendôme, nachdem sie die dortige Siegessäule Napoleons zerstört hatten. Dieses Stadtlabor wiederum startete ein mehrjähriges Rechercheprojekt zum Thema Stadt und mit dem Buch Baustelle Commune, Henri Lefebvre und die urbane Revolution von 1871, erschienen im adocs Verlag, liegt nun eines der beachtlichen Ergebnisse vor. Dem Herausgeberteam Moritz Hannemann, Klaus Ronneberger und Laura Strack ist es gelungen, durch eine Mischung von ausgewählten und erstmals von Laura Strack ins Deutsche übertragenen Texten aus Lefebvres Buch La Proclamation de la Commune und einer gewissermaßen zweiten hermeneutischen Schicht von Texten mehrerer Autoren, die Commune gedanklich auferstehen zu lassen. Klaus Ronneberger, ein ausgewiesener Kenner Lefebvres, gibt einen kurzen historischen Abriss und eine Charakterisierung Lefebvres als »Partisan des Möglichen«, Moritz Hahnemann schreibt über die Commune als Fest und Hanna Strack erläutert die Erfahrungen aus ihrer Übersetzung. Den Abschluss macht eine Bilderstrecke von Jan Lemitz, in der die Fotos aus Lefebvres Buch von 1965 nochmals nachgestellt werden.
        Lefebvres Denken steht unter einer Grundspannung zwischen Marx und Nietzsche und er betonte immer, dass er Nietzsche nicht den Faschisten (damals Hitlériens, den Hitlerianern) überlassen wolle, wie Rémi Hess einmal in seiner Biographie über Lefebvre erwähnt.
        Er stand daher immer unter dem Druck, schwer vereinbare, wenn nicht überhaupt völlig inkompatible Theoriestränge zu fusionieren: Auf der einen Seite die hegel-eklektische, ökonomisch abgeleitete und mit Utopieformeln versehene Lehre Marx’ und auf der anderen Seite Nietzsches Theorie der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen als definitiv nicht erreichbare Utopie. Für Lefebvre stand aber vor allem das dionysische Element, wie es aus der Geburt der Tragödie zu ersehen ist, im Vordergrund und nicht die Ideen der späten Periode des Zarathustra der drei Verwandlungen. Für Lefebvre verläuft dieser Prozess einer Umsetzung in die Praxis über seine Rezeption der Situationiste:innen, die eine neue Spielart des Surrealismus initiieren, indem sie Kunst, Bewegung und Dauerkreativität in eine ludische Form verwandeln, die seinem Geschmack entspricht. Dieses Input dürfte ihn bestärkt haben, eine neue Geschichte der Commune zu verfassen, indem er – nun mit einem nietzscheanischen Unterbewusstsein ausgestattet – einen Zusammenhang zwischen der Idee des Spiels und der Revolution zu beschreiben versucht.
        Der Zeitpunkt des Erscheinens war nicht zufällig, zumal in Frankreich schon länger ein Klima politischer Gärung herrschte und sich eine Stimmung des Umsturzes – zumindest in intellektuellen Kreisen – verbreitete, die in den Stu­d­ent:innen­unruhen vom Mai 1968 gipfelten. Lefebvre ging es um eine nicht ganz einfache Verdeutlichung seiner ideologischen Position, indem er – wie er meinte – mit La proclamation de la Commune eine neue oder andere Form der Geschichte der Commune vorlegte, die ein motivationales Muster für künftige Entwicklungen abgeben könnte. Vor allem geht es ihm um zwei Dinge: Eine definitive Abgrenzung zur Russischen Revolution von 1917, deren Ergebnis und Wirkung er stets kritisierte, weil alle Macht dem Staat übereignet und keine Verbesserung des Alltagslebens, sondern eher das Gegenteil erwirkt wurde. Dies ging an die Adresse der französischen KP (PCF), mit der er sich ohnehin im Dauerkonflikt befand, da sie damals noch einen straffen Kurs mit stalinistischen Untertönen verfolgte und die Inspirationen Lefebvres völlig unwissenschaftlich fand. Spontaneität war für die PCF eine geistige Verirrung und eine Flucht aus den Lehren von Marx und Lenin. Eine Abkehr vom Staat kam nicht in Frage und die spielerische Intention war wohl eher von der Drohung des Kontrollverlusts begleitet. Auch lehnte sie bis zuletzt die Unterstützung eines Generalstreiks, wie er von den Student:innen im Mai 1968 gefordert wurde, ab, weil sie darin kein revolutionäres Potenzial erblicken konnte – vermutlich zu Recht. Übrigens hielt sich auch Lefebvre in dieser Frage eher bedeckt.
        Lefebvre wollte mit seinem Projekt des Commune-Buchs weder journalistisch noch als klassischer Historiker auftreten, sondern eine Erhebung des Volkes, einen Aufstand als ein Ereignis beschreiben. Damit bezieht er sich auf den damals noch kaum verwendeten Begriff des ›évènement‹, des Ereignisses, der sich durch Dynamik und die Darstellung eines Wandels auszeichnet und damit das zeigt, was ihm ohnehin immer schon am Herzen lag, das ›Werden‹. Allerdings ein Werden im Sinne einer Virtualität und nicht der Entelechie. Die Commune sieht er als Fest, wohl auch in Hinblick auf die französische Tradition, die insbesondere durch Rousseau mit seiner Eloge auf das Fest als unschuldiger Ausdruck des Volkes und Keim der Volonté Générale vermittelt wurde. Diese Art des glücklichen Fests währte vom 18. März bis zu den Wahlen am 26. Und schließlich zur ›proclamation de la commune‹ am 28. März. »Das Volk zerreißt die Dämme, ergießt sich über die Straßen«, eine brüderliche Masse, die die Soldaten entwaffnet, »in seiner Jugend und Vitalität kommt der Geist des Volkes zum Vorschein«. Ein kollektives Fest, das durch ein wunderbares Zeremoniell geordnet wird und nun wieder eine Vereinigung mit den Palästen und Monumenten der Stadt erlaubt.
        Freilich ist Lefebvre im völligen Bewusstsein der Ambivalenz dieses Festes, das plötzlich seinen Charakter ändert, aber weiter besteht, wenngleich es nun im Schmerz fortgesetzt wird. »Tragödie und Drama sind bekanntermaßen blutige Feste, im Laufe derer sich das Scheitern, das Opfer und der Tod des übermenschlichen Helden vollziehen, da dieser das Schicksal herausgefordert hat.« Die Tragödie nimmt ihren Lauf und das übermenschliche Schicksal des Helden vollzieht sich. Wie in der griechischen Tragödie werden Protagonist:innen, Chor und Publikum zusammengehalten, um dem Drama die gebührende Form zu verleihen.
        Die Nietzscheanische Inspiration ist nicht zu übersehen, doch letztlich fragt sich auch Lefebvre: »Was war das nur? Ein grundlegender Wille, den Status quo der Welt, des Lebens und der Dinge zu verändern, eine Spontaneität voller edler Gedanken, ein totales revolutionäres Projekt. Ein fieberndes, umfassendes ›Alles oder nichts‹. Eine lebendige und absolute Wette aufs Mögliche und Unmögliche …«
        Wer all dies und noch mehr wissen möchte, sollte sich dieses Buch besorgen.


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