Die Entgrenzung der Architektur
Besprechung der Ausstellung »Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen« im Architekturzentrum WienAusstellung
Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen Architekturzentrum Wien
29.05.2020 –29.06.2020
Kuratorin Khushnu Panthaki Hoof; Kuratorin Vitra Design Museum: Jolanthe Kugler
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Katalog
Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung, Jolanthe Kugler, Khushnu Panthaki Hoof (Hg.)
Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2019
383 Seiten, 59,90 Euro
Die aktuelle Ausstellung im Architekturzentrum Wien mit dem Titel Balkrishna Doshi – Architektur für den Menschen ist auf den ersten Blick eine traditionelle Personale und erscheint so von den zuletzt thematisch orientierten Zugängen im Architekturmuseum abzuweichen. Der Umstand, dass es sich um eine internationale Wanderausstellung handelt, ist spürbar: Die verschachtelte Schau erscheint im Ausstellungsraum des Az W etwas eingezwängt und insbesondere das zentrale Modell im Zentrum der Ausstellung wirkt in seiner Übergröße leicht deplatziert.
Der indische Architekt Balkrishna Doshi, Jahrgang 1927, hat in der Nachkriegszeit in den Büros von Le Corbusier und Louis Kahn gearbeitet. Sein eigenes, mittlerweile viele Jahrzehnte umspannendes Werk ist stark von der Formensprache und Ideenwelt seiner Lehrmeister beeinflusst und geht doch über diese hinaus. Es ist gleichermaßen von der westlichen Moderne geprägt wie von lokalen und regionalen Bautraditionen der indischen Kultur-Land- schaft, in der sie eingebettet sind. Eine originäre Offenheit der räumlichen und funktionalen Konfigurationen zeichnet das architektonische Werk Doshis aus, für das er 2018 mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet wurde.
Es überschreitet die Grenzen des traditionellen Funktionalismus. Die von Doshis Büro entworfenen Stadtquartiere, Wohn- und Bildungsbauten zeichnet eine hohe Nutzungsoffenheit aus, die aus der traditionellen indischen Alltagskultur abgeleitet ist. Die Architektur versteht sich hier nicht mehr als übergeordnetes Ordnungsprinzip, sondern als Rahmenwerk, das vielfältige Nutzungsszenarios ermöglichen soll. Dabei ordnet sie sich einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang unter. Lebenswirklichkeiten werden nicht als Hindernis verstanden.
Doshis Arbeitsfelder beschränken sich nicht auf die eines traditionellen Architekten. Seine Bildungsbauten basieren auf einem von ihm mitentwickelten interdisziplinären Ausbildungskonzept. Die allumfassende Konzeption ist aber gleichzeitig immer als wandelbare, offene Struktur konzipiert. Das Leben der Menschen auf der gesellschaftlichen und kulturellen Ebene soll durch das räumliche Dispositiv nicht kontrolliert werden – es soll sich frei entfalten können. Architektur schreibt nichts Endgültiges fest, sondern soll auch das Unvorhersehbare ermöglichen.
Manchen Entwürfen gingen vom Architekten erfundene Erzählungen und Mythen voraus, ein Narrativ wird angeboten, das aber durch den Gebrauch überschrieben werden darf und soll.
Nachhaltiges Bauen so verstanden, zielt auch auf Wandelbarkeit ab. Räumliche, architektonische, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte begegnen sich auf Augenhöhe. Der anvisierte Gemeinsinn der zukünftigen Bewohner*innen ist eine Utopie, die erst durch die Praxis des Bewohnens realisiert werden kann.
Am Bau einer Wohnsiedlung für ein- kommensschwache Gruppen, die auch in der Schau zu sehen ist, waren die zukünftigen Bewohner*innen beteiligt. Die Architekt*innen haben eine »main-structure« entworfen, die von den Bewohner*innen im Laufe der Zeit ihren Bedürfnissen gemäß erweitert und verändert werden darf – sie werden selbst zu Architekt*innen der »sub-structure«. Diese Form der Raumproduktion nimmt ein Spannungsverhältnis von Kontrolle und Kontrollverlust bewusst in Kauf.
Auf technischer Ebene bedeutete das in diesem Fall eine Kombination aus Fertigbauweise und lokalen Handwerkstechniken, Tradition und Moderne. Doshis Landschaften lösen die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Projekt und benachbarter Siedlungsstruktur auf. Strategisch gesetzte Zwischenräume und Schwellen, räumliche Leerstellen erlauben Durchlässigkeit
und eine Praxis der Aneignung durch die Bewohner*innen und Nutzer*innen.
In der Ausstellung verweisen bewegte Bilder und Szenen, welche die digitalen wie analogen Pläne ergänzen, auf die Bedeutung des realen Gebrauchs. Doshis Gemälde, die der Tradition indischer Miniaturmalerei abgeleitet sind und seine Projekte auf eine abstrakte wie imaginäre Ebene heben, scheinen simultane Szena- rien zu präsentieren und verweisen so auf einen zentralen Aspekt Doshis Architektur: Zeit spielt in ihrer Konzeption eine genauso wichtige Rolle wie Raum.
Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.
Markdown aber keine Medien. Last, First (Hg.): The Title, City 2000