Die fortlaufende Erschreibung der Stadt
Ein Versuch über Psychogeographie und LiteraturNeben den Strategien der produktiven Zweckentfremdung (détournement) und des nicht minder inspirierenden Umherschweifens (dérive) ist auch die Psychogeographie, als Theorie und Praxis eines bewussteren und zugleich auch modifizierten Umgangs mit urbanen Angeboten und städtischer Wirklichkeit, als zumindest gleichwertiges, künstlerisch nutzbares Instrument anzuerkennen. Angesiedelt zwischen Abstoßbewegung von den Gegebenheiten des Vorgefundenen und der (Neu-)Erfindung der Realität, ist die Psychogeographie als Haltung der Erkundung, als explorative Poetik fassbar. Die theatralperformativen und filmischen Beispiele, die sich dieser Richtung verpflichten, wurden immer wieder untersucht, eine Analyse entsprechender literarischer Werke ist da schon weit seltener nachzuweisen. Im vorliegenden Text soll deshalb eine mögliche Geschichte besagter psychogeographischer Literatur angedeutet werden, die einerseits die verwobene, historische Entwicklung anhand markanter Beispiele aufzeigt, andererseits aber auch zur eigenen literarischen Auseinandersetzung mit (der) Stadt hinleitet. Der historische Abriss der literarischen Beispiele kann, nicht zuletzt aufgrund der Unmöglichkeit von Vollständigkeitsvorstellungen und mangels mimetischer Qualitäten der Historiographie ganz generell, nur ein erster Einstieg anhand einer (vorsätzlich) subjektiven Auswahl sein, die vor allem auf Primärliteratur und die Darstellung der Wirkungsweisen besagter psychogeographischer Poetik ausgelegt ist.
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.