Die hellenische Entdeckung des Urbanen
Geschichte der Urbanität, Teil 1Urbanität ist ein Begriff, der derzeit Hochkultur hat. Einem aktuellen Exemplar der Stadtzeitung Falter entnehme ich etwa eine Aufzählung von folgenden Tätigkeiten im urbanen Raum: Shoppen, Sprayen, Spazieren gehen und – in Holland – auch Schweine züchten. Urbitekten planen dort Hochhäuser für die Schweinezucht im Sinne des gestapelten Bauernhofs. Angesichts dieser Universalität des Begriffes Urbanität ruft der Autor nach disziplinärer Strenge und lädt in die strenge Kammer der Begriffe in der Gestalt einer historischen Ableitung ein. Erste Station ist das alte Griechenland in der Zeit des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Beim Wort »Urbanität« selbst handelt es sich allerdings um einen Begriff, der erst über ein Jahrtausend danach von dem später heilig gesprochen Isidor von Sevilla geprägt wurde, indem er von einer aus wirklichen Steinen erbauten Stadt sprach.
Urbanität ist ein Begriff, der derzeit Hochkultur hat. Einem aktuellen Exemplar der Stadtzeitung Falter entnehme ich etwa eine Aufzählung von folgenden Tätigkeiten im urbanen Raum: Shoppen, Sprayen, Spazieren gehen und – in Holland – auch Schweine züchten. Urbitekten planen dort Hochhäuser für die Schweinezucht im Sinne des gestapelten Bauernhofs.[1] Angesichts dieser Universalität des Begriffes Urbanität ruft der Autor nach disziplinärer Strenge und lädt in die strenge Kammer der Begriffe in der Gestalt einer historischen Ableitung ein. Erste Station ist das alte Griechenland in der Zeit des fünften vorchristlichen Jahrhunderts.
Beim Wort »Urbanität« selbst handelt es sich allerdings um einen Begriff, der erst über ein Jahrtausend danach von dem später heilig gesprochen Isidor von Sevilla geprägt wurde, indem er von einer aus wirklichen Steinen erbauten Stadt sprach. In seinen Etymologiae, also einem Werk über den Ursprung der Wörter[2], führt er das Wort Stadt, City, Cité auf zwei wesentliche Wurzeln zurück. urbs meint die Steine der Stadt, die die schützende Funktion des Steines bezeichnen, civitas bedeutet eher die Rituale und Anschauungen, die sich in der Stadt entwickeln. In moderner Terminologie könnte man urbs als Hardware und civitas als Software bezeichnen. Die Betonung, die Isidor auf urbs legte, beruhte auf dem notwendigen Heroismus, der zur Neuerrichtung einer Stadt im siebenten nachchristlichen Jahrhundert notwendig war. Insoferne ist die Einführung dieses Begriffs in Griechenland eine Form methodischer Fiktion zur besseren Veranschaulichung seiner Entwicklung.
Nach dem endgültigen Sieg über die Perser befanden sich die Griechen nun an der Schwelle jenes fünften Jahrhunderts, in dem sich der zweite, vielleicht fundamentalste Schritt der politischen und sozialen Entwicklung der Menschheit – nach dem der Sesshaftwerdung –vollziehen sollte. Die erste große anthropologische Wende, der Prozess der Sesshaftwerdung, der ca. acht- bis zehntausend vor Chr. zurückreicht, zeichnet sich neben den äußerlich sichtbaren Stadterrichtungen strukturell vor allem dadurch aus, dass das kooperative Prinzip der nomadischen Gesellschaft durch ein Abstammungs-a priori, also ein Genealogieprinzip abgelöst wurde.[3] Diese frühen Städte waren von Verteidigungsgürteln umgeben und schlossen sich um Getreidevorräte und den Schatz.[4] Unter den Wohnstätten der Familien, der Priester, Krieger und Handwerker wurden die Toten in Urnen bestattet. Die Abstammungsideologie musste sich auf die Toten berufen, weil deren Existenz die Zugehörigkeit zu den Ahnen bestätigte. Den Ahnen gebührte auch die Verehrung der Lebenden, weil nur sie deren soziale Stellung auf Dauer garantieren konnten. Von damals an legte die Abstammung fest, wer mit wem zusammenleben und zusammenarbeiten konnte. Zugleich etablierte sich ein religiöses System, in dem sich der König auf die Abstammung von den Göttern beruft, sein Wille daher stets als göttlicher Wille erlebt wird. Doch mit der notwendigen Präsenz der Toten, und der aus der Praxis der Totenkulte entstandenen Gottesverehrung, zog auch ein neues Element des Unheimlichen ein. Der anwesende Tote erinnerte stets an die Schuld des Lebenden, an seine Verpflichtung den Toten gegenüber, die ja deshalb gestorben sind, um ihm das Leben zu ermöglichen. Daraus erwuchs eine starre Verpflichtung der sozialen Ordnung gegenüber, die zum Festhalten an der Tradition verpflichtete und vorläufig das Aufkommen von Phänomenen des Urbanen unmöglich machte.
Die Geburt der griechischen Stadt aus der Ablösung vom Totenkult.
Den Griechen gelingt es nun als erstem Volk, sich von den monumentalen Todeskulten, die noch die arabische und vor allem die ägyptische Kultur mit ihren kolossalen Pyramidenbauten beherrschten, mental zu lösen und den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen, wie die grandiose Entwicklung der Skulptur vom primitiven Grabmal zur glanzvollen Plastik des menschlichen Körpers unter Beweis stellt. Die bisher omnipräsenten Toten, die man ja als wirklich anwesend dachte und erlebte, werden zurückgedrängt aus dem Haus und aus der Stadt entfernt, indem sie auf einem Friedhof außerhalb der Stadtmauern begraben wurden, um vor ihnen sicher zu sein. Diese räumliche Distanzierung erfolgt auch von den Göttern. Sie erhalten auf der Akropolis eine eigene Wohnstätte, die man zu ihren Ehren errichtet. Aber das doppelbödige Mysterium des Gottes hat sich im neuen Tempel aufgelöst. Der Tempel ist offen, allen zugänglich und kann überall von der Stadt aus gesehen werden. Der Großteil des Tempels besteht nunmehr aus einer zugänglichen Säulenhalle, die Cella hingegen, das eigentliche Heiligtum, nimmt nur mehr geringeren Raum ein. Auf dem Tympanon und Fries sind die Skulpturen der Götter sichtbar, die durch diese Bildnisse den Öffentlichkeitscharakter verstärken. Wie schon Hegel festgestellt hat[5], werden die Götter den Menschen ähnlich. Diese Wende der Götter von »Innen« nach »Außen« hat fundamentale Auswirkungen auf die Stadt und die Gesellschaft. Sie überträgt sich auf die mentale Organisation der Griechen in der Weise, dass sie Introspektion überhaupt nicht kennen. Das neue Prinzip der Sichtbarkeit, der Gerichtetheit nach außen, formt die Gestalt der Stadt.
Einen Schlüssel zum Verständnis bildet der neue Kult des Körpers und der Nacktheit[6], der allerdings im Gegensatz zu aktuellen Verhältnissen nur auf die Männer beschränkt war. Der berühmte Thukydides berichtete als erster über die Spartaner, die im Kampf im Gegensatz zu den Barbaren, die zumindest auf einer Bedeckung ihrer Genitalien insistierten, nackt waren. Der griechische Historiker ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich dabei um ein Zeichen avancierter Zivilisation handelte. Das Bürgerrecht definiert sich in Griechenland auch über die Teilnahme am Krieg. Die Selbstbegründung der griechischen Demokratie beruht auf der Verwerfung der Todesangst. Die Nacktheit bringt diesen Überschwang und Exzess des Kampfes und die Überwindung der Furcht zum Ausdruck, und wird ein Zeichen der Selbstsicherheit. Erst das gemeinsam getragene Todesrisiko im Kampf schafft die Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung als Bürger.
Das Bürgerrecht besaßen in Athen jene erwachsenen Männer, die frei geboren waren, deren Eltern AthenerInnen waren und die am Krieg teilnehmen konnten. Schon allein aufgrund der Verpflichtung des Bürgers zur Teilnahme am beinahe jährlichen Krieg, war die soziale Stellung des Mannes dominant. Die Frau war auf das Haus – den oikos –, beschränkt, auf die Sphäre der alltäglichen, reproduktiven Tätigkeiten; damit war sie vom politischen Leben auf der Polis, das dazu in striktem Gegensatz gesehen wurde, im Wesentlichen ausgeschlossen. Da der Grieche davon überzeugt war, in seinen männlichen Nachkommen weiterzuleben, nahm die Frau aber auch eine Schlüsselposition ein, die ihr ein Recht auf gute Behandlung gab.
Mit der Situierung der Frau im Haus vergleichbar ist die Stellung der Sklaven, die ebenso der Sphäre des Ökonomischen zugeordnet wurden. Die griechische Gesellschaft, wie damals anderswo auch, in einem starken Maß auf der Arbeit der Sklaven beruhte, da der Bürger ein für heute unglaubliches Maß an Zeit in der Polis und den Versammlungsorten verbrachte und eine persönliche Konzentration der Lebenszeit auf Beruf oder Gelderwerb nur soziale Verachtung zur Folge gehabt hätte. Der Grieche lebte für die Ehre und die Hoffnung, in der Nachwelt erinnert zu werden. Viele Sklaven (außer in Sparta) dürften daher aufgrund ihrer völligen Unentbehrlichkeit ein verhältnismäßig angenehmes Leben geführt haben, da aus der griechischen Antike kein einziger Sklavenaufstand bekannt ist, der bei der zahlenmäßigen Überlegenheit der Sklaven durchaus Chancen gehabt hätte.
Stadtplanung aus dem Geiste der überschwänglichen Nacktheit
In der Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem expressiven Körperbild der Griechen, der Erfindung neuer Bauwerke und der Art der errichteten Gebäude. Stoa und Gymnasium sind elementare Bautypen, die auf unterschiedliche Weise auf diese Situation der Extrovertiertheit antworten. Es mag für unser modernes Verständnis von Schule merkwürdig sein, wenn man daran erinnert, dass das Wort Gymnasium von gymnoi, splitternackt kommt. Noch sonderbarer mag es scheinen, dass man die Schule als geförderte Stätte der erotischen Knabenliebe auffasste, ja dass die Homoerotik neben einer normalen Ehe geradezu als Bürgerpflicht galt. Das Gelände des Gymnasiums mit der palaistra, der Stätte, wo die Ringkämpfe stattfanden und dem dromos, der Rennbahn, war ein Trainingscamp für den Erwerb eines schönen Körpers, ebenso ein Ort zur Übung der Redekunst und der Dichtung. Dieses Gelände diente aber auch der Anbahnung von Liebesverhältnissen zwischen eronomos und erastes. Der erastes, der Ältere und Erfahrenere, konnte den Jüngeren beim Sport beobachten und um ihn werben. Erst aus diesem Bewusstsein des Unter-Beobachtung-Stehens heraus sah sich der Jüngling zu besonderer Leistung angespornt, das homoerotische Verhältnis hatte den pädagogischen Sinn, die paideia, ein guter Bürger zu werden. Dies motivierte Perikles zu seinem berühmten Vergleich, wonach sich der Bürger in der gleichen Weise in die Stadt verlieben sollte, indem er das erotische Wort für Liebhaber erastai verwendete. Eine erotische Beziehung meinte bei den Griechen allerdings die Liebe zu einer höheren Sache, einer Idee, die modernen sexuellen Implikationen wären unmöglich gewesen. Auch in den homoerotischen Beziehungen wäre eine rein sexuelle Ausrichtung, wie sich am Beispiel des geächteten Analverkehrs erkennen lässt, verpönt gewesen.
Die Erfindung des Habitus auf der Agora
Die Bürger befanden sich auf der Agora in gewisser Weise in würdevollem Einklang mit dem sie umgebenden Raum. Das Bemühen um eine aufrechte Haltung, die durch eine Mischung aus Zielstrebigkeit und Gleichmut gekennzeichnet war, prägte das Körperverhalten auf der Agora. Die Bürger standen in kleineren Gruppen zusammen oder bewegten sich energisch auf ein bestimmtes Ziel zu. Hier wurde der Habitus des Orthogonalen geprägt. Hier konnte sich die Masse in Würde versammeln. Die Stoa, die beherrschende Architektur der Agora, entstammt ebenfalls dem griechischen Geist der Extrovertiertheit und der Freude am Expressiven. Als Randbebauung offener Plätze ermöglichte sie eine Platzgestaltung der ursprünglich rohen und ungeordneten Agora, die den kommunikativen Anforderungen der betont extrovertierten Gesellschaft entsprach. Die Rückseite der Stoa war zugemauert und bildete den Abschluss des Platzes, die Vorderseite bestand aus einer offenen, der Agora zugewandten Kolonnade. Schon damals beherrschte man die Differenzierung des Raumes, indem man Bereiche unterschiedlicher Exponiertheit erzeugte. Wärmere und kältere, geschützte und offene Zonen wechselten einander ab. Die Stoa als Prototyp des gelungenen öffentlichen Raums bot eine bunte Mischung der Bevölkerung. Neben Schaustellern, Artisten, Bettlern, Händlern konnte man bekanntlich sogar Philosophen beobachten, eine Spezies also, die in den modernen Theme Parks oder Plazas seltener anzutreffen ist. Andere Teile der Agora waren großen Gerichtsverfahren gewidmet, wo weit über tausend Menschen teilnehmen konnten.
Das Theater. Die erste Bewusstseinsmaschine zur Erzeugung kollektiver Realität
Ein weiterer Prototyp der Stadt, das Theater, entwickelt sich aus einer Raum-Körper Situation, die aus einem spezifischen Medienerfordernis entsteht. theatron heißt auf griechisch schlicht ein Ort zum Sehen und übte die Menschen in anhaltendes, konzentriertes Sehen auf einen Punkt, hier die Spielfläche, ein. Die topologische Ausnützung der Hügel zur Anlage terrassenförmiger Zuschauersitze zählt ebenfalls zu einer der großen Kulturleistungen des griechischen Genius, da sie eine Verbindung von Raum und Stimme schafft, die durch den ansteigenden Raum den Schall der Stimme nicht zerstreute, sondern die Lautstärke sogar steigerte. Im Theater wurde die konzentrierte Beobachtung der individuellen Darstellung, und eines einzelnen Redners, kulturell erlernt. Das über längere Zeiten sitzende Publikum wurde auf diese Weise in eine empathische Haltung versetzt und war nun in der Lage sich mit dem Inhalt der Tragödie zu konfrontieren. Architektur und Körper gehen hier fundamentale Verbindungen ein und schaffen erstmals die Voraussetzung für kollektive Imagination. Hier entsteht die erste Maschine zur Erzeugung einer kollektiven Realität.
Es ist kein Zufall, dass in Athen im fünften Jahrhundert v. Chr. das Theater am Hügel Pnyx für große politische Versammlungen verwendet wurde, in weiterer Folge diente die Theaterarchitektur als Modell für Gebäude, in denen Volksversammlungen abgehalten werden. Die Einteilung der einzelnen keilförmigen Segmente nach den Phylen, den einzelnen Stämmen, aus denen sich die Stadt zusammensetzte, ist das bis heute gültige Modell der meisten Parlamente.
Die Begräbnisrede des Perikles. Ältestes Dokument der Urbanität.
Wer sich heute im Zeitalter abgedroschener Phrasen über Politikverdrossenheit und die Ohnmacht in der Telekratie noch im Entferntesten vorzustellen versucht, was für die Griechen die Entdeckung der Demokratie bedeutet haben mag, der hat sich ein neues phantastisches Lebensgefühl – nennen wir es »Urbanität« – vorzustellen, das in mehreren Gründen wurzelte. Zunächst eine Emanzipation aus der Sphäre der Todesfurcht und des Unheimlichen, die selbst uns erst einmal gelingen müsste, obwohl wir uns vermutlich über derlei Fragen kaum Rechenschaft ablegen und sie in den Bereich des Psychologischen verschoben haben.
Weiters im Bewusstsein all jener Errungenschaften zu sein, also der Stolz frei und kein Sklave zu sein und sich gleichzeitig im Wissen zu wähnen, erstmals in der Geschichte der Menschheit herausgefunden zu haben, wie man »menschenwürdig« lebt. Nämlich nicht mehr als der gehorsame Diener eines unergründlichen göttlichen Gesetzes, sondern als vernünftig urteilende Menschen, deren Gesetze durch Abstimmung beschlossen wurden und nicht von Göttern erhört wurden, deren Kunst den Menschen ins Zentrum stellte und deren Wissenschaft gegen den wuchernden Mythos und dunkle religiöse Kulte auftrat. Im Bewusstsein der neuen kulturellen Eigenschaften war eine wesentliche Voraussetzung für jenes Hochgefühl der Athener geschaffen, dem in der berühmten Rede des Perikles Ausdruck verliehen wird.
Noch deutlicher wird die rhetorische Qualität dieser Rede, wenn man den Umstand ins Kalkül zieht, dass diese Rede aus Anlass einer Begräbnisfeier der ersten Toten des peloponnesischen Krieges gehalten wurde. Anstelle der üblichen Rituale der Beklagung drehte Perikles die Rede sozusagen um, versuchte die Trauer der Eltern in Stolz zu verwandeln und konvertierte die Ansprache in eine grandiose Präsentation des Hochgefühls der Athener über ihre Stadt, das durch Thukydides als das erste Dokument der Urbanität überliefert wurde.[7] Perikles vermeidet die übliche Aufzählung der militärischen Ruhmestaten, sondern kommt auf den für ihn wesentlichen Punkt: »Aber durch welche Lebensführung wir dahin gelangt sind, mit Hilfe welcher Form der politischen Gemeinschaft, durch welche Eigenschaften unsere Stadt so groß geworden ist, das will ich darlegen, um dann zum Preise der Gefallenen hier überzugehen ......« und nun folgen die historischen Worte: »Wir leben in einer Staatsverfassung, die nicht den Gesetzen der Nachbarn nachstrebt, sondern wir sind eher das Vorbild für andere als deren Nachahmer. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind bei persönlichen Rechtstreitigkeiten alle Bürger gleich, das Ansehen jedoch, das einer in irgendetwas besonders genießt, richtet sich im Blick auf das Gemeinwesen weniger nach seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksklasse, sondern nach seinen besonderen Leistungen wird er bevorzugt. Auch dem Armen ist, wenn er für den Staat etwas zu leisten vermag, der Weg nicht durch die Unscheinbarkeit seines Standes versperrt. Und wie in unserem Staatsleben die Freiheit herrscht, so halten wir uns auch in unserem Privatleben fern davon, das tägliche Tun und Treiben des Nachbarn mit Argwohn zu verfolgen. Wir verargen es niemandem, wenn er tut, was ihm gefällt, und setzen auch nicht jene kränkende Miene auf, die ihm zwar nichts zuleide tut, aber doch höchst widerwärtig ist«.[8] Man muss sich vergewärtigen, dass diese Worte nicht nur Weltliteratur sind, sondern die Urworte demokratischer Toleranz, so banal sie uns auch scheinen mögen. Sie legen Zeugnis ab vom Willen und der Begeisterung zur positiven Organisation der Masse, und sind unschuldig und frei von aller Verächtlichkeit, die das moderne Denken gegenüber der Masse hegt. Unschuldig auch die folgende Äußerung zur Frage der demokratischen Partizipation: »Wir sind die einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern für ein unnützes Mitglied desselben halten«.[9]
Nun folgt ein Seitenhieb gegen die Spartaner, wo sich Fremde nur vorübergehend aufhalten durften, überwacht wurden und jederzeit ausgewiesen werden konnten: »Auch in den Kriegsvorbereitungen unterscheiden wir uns von unseren Gegnern. Denn unsere Stadt ist jedermann offen, und es gibt keine Fremdenausweisung, durch die wir jemanden hindern, sich zu unterrichten und zu schauen, mag auch ein Feind Nutzen aus dem Verzicht auf die Verheimlichung ziehen«.[10] Hier dokumentiert Perikles erstmals die Haltung einer toleranten und kosmopolitischen Urbanität, die sich nicht durch xenophobe Impulse beirren lässt.
Fußnoten
Matthias Dusini: »Bright Lights, Pig City«, in: Der Falter 7/02. Der Urbitekt Winy Maas plant dieses Projekt. ↩︎
Isidor von Sevilla: Etymologiae, Buch X ↩︎
Thomas H. Macho: »So viele Menschen. Jenseits des genealogischen Prinzips«, in: Peter Sloterdijk (Hg.): Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Frankfurt 1990 ↩︎
André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, Frankfurt 1980, S 227. ↩︎
G.W.F. Hegel: Ästhetik Bd. II ↩︎
Richard Sennett: Fleisch und Stein, Berlin 1995 ↩︎
Thukydides: Der peloponnesiche Krieg ↩︎
Thukidides, a.a.O., Buch II, 37 ↩︎
Thukydides, a.a.O.,Buch II, 40 ↩︎
Thukydides, a.a.O., Buch II, 38 ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.