Die Karte als Werkzeug der Ermächtigung
Besprechung von »This is not an Atlas« von kollektiv orangotango+ (Hg.)kollektiv orangotango+ (Hg.)
This is not an Atlas
Transcript: Bielefeld 2018
352 Seiten, 34,99 Euro
In den letzten Jahrzehnten wird die Rolle der Kartographie als militärisch und imperial geprägtes Herrschaftsinstrument immer wieder hinterfragt und ihre Praxis laufend mit kritischen und interdisziplinären Positionen ergänzt. Karten wird vorgeworfen, den Raum verzerrt und unvollständig abzubilden oder ganz verschwinden zu lassen. Die normative Kategorisierung von Orten, aber auch die quantitative Erfassung von Menschen als Kartengegenstand werden hinterfragt. Publikationen der kritischen Kartographie, wie The Power of Maps (Wood, 1992) oder An Atlas of Radical Cartography (Bhagat, Mogel, 2008) zeigen auf, dass die Kartensprache, für die Objektivität beansprucht wird, in Wirklichkeit strategisch ist, und immer eine Agenda verfolgt. Als Weiterführung der kritischen Kartographie wird die counter-cartography gesehen, die Karten als Werkzeug der Selbstermächtigung wieder ins Spiel bringt. Die Visualisierung räumlicher Narrative soll Betroffenen zu politischer Artikulation verhelfen, dabei wird das räumliche Erleben der vor Ort lebenden Menschen der Perspektive der Machthabenden und der Profitinteressen entgegengesetzt. Widerständiges Kartieren produziert Darstellungen, die multiple Räumlichkeiten anerkennen und integrieren können. Neben geographischen Werkzeugen werden auch Kunst und Pädagogik eingesetzt, um in kollektiven Prozessen gemeinsam mit Betroffenen Probleme und Fragen zu formulieren. Im gemeinsamen Kartieren bilden sich so ermächtigende Allianzen, die Machtverhältnisse hinterfragen können.
This is Not an Atlas steht eingeprägt auf dem Leinenumschlag, der großformatige Band versammelt in acht thematischen Kapiteln 38 Karten, die vom Berliner kollektiv orangotango+ in vierjähriger Arbeit zusammengetragen wurden. Trotz dieser Opulenz geht es hier nicht um eine Abbildung der Welt mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, im Mittelpunkt stehen vielmehr Entstehungsgeschichte und Machart der Karten und die zugrundeliegenden Prozesse der Kommunikation. Die vorgestellten widerständigen Kartographien dokumentieren räumliche Auswirkungen von alltäglichen Lebensumständen, Besitzverhältnissen und sozialen Fragen. Ihr Ziel ist die Sichtbarmachung von marginalisierten Gruppen und AkteurInnen, anstatt eines harmonisierten, normierten Blickes auf die Welt. Die AutorInnen der sogenannten counter-mappings kommen dabei aus verschiedenen Disziplinen der kritischen Wissenschaften, Bildungsarbeit, Kunst und Architektur. Im Unterschied zu konventionellen Karten steht hier die Haltung im Vordergrund, AutorInnenschaft und Entscheidungsmacht mit Individuen und Kollektiven vor Ort zu teilen. Die Sammlung gibt einen weltumspannenden Überblick über counter-mapping als politische Praxis, liefert aber gleichzeitig präzise Hintergrundinformationen zu den mutigen kartographischen Gesten, die in die Karten eingeschrieben sind. Dieser Atlas könnte auch wie eine multiperspektivische Weltkarte gelesen werden, mit der man sich global orientieren, oder in die man lokal eintauchen kann.
Die Themenfelder reichen dabei von bedrängten indigenen Lebensräumen in Südamerika über fehlende Infrastruktur in Slums in Indien und Kenia bis hin zu sexueller Belästigung in Ägypten oder Überschwemmungen in Irland. Für die Erstellung von Kartographien mit den Gemeinschaften, anstatt nur für sie, werden Offenheit, Raum und Zeit für Begegnung, aber auch Ressourcen und kartographische Werkzeuge benötigt. Eine zentrale Frage ist daher, wie das mapping, das Machen von Karten, denjenigen zugänglich gemacht werden kann, die bei der herkömmlichen Kartierung oft übersehen werden. Drei Ansätze dazu finden sich in der Mitte des Buches im Kapitel über Gelegenheitskartographie, dem der Gedanke zugrunde liegt, dass, wer räumliches Handeln in einer Karte erfassen kann, auch den Raum gestalten kann. Die Produkte kartographischer Selbstermächtigung sind teilweise handgemacht, stützen sich aber auch auf die weltweit verfügbaren öffentlichen Geodaten und freie Software. Für die Erstellung digitaler Karten sind nicht nur Datenquellen, sondern auch graphische Erfahrung erforderlich. Die Grundregeln dafür bereiten Denis Wood und John Krygier in ihrem Beitrag Making Maps didaktisch auf.
Die argentinische Gruppe Iconoclasistas hält seit Jahren kartographische Workshops ab, in denen sie eine kollektive transformative Praxis umsetzt. Ihre Erfahrungen mit kritischer Pädagogik und Kartenerstellung mit Gemeinschaften werden im Handbuch Manual of Collective Mapping zugänglich gemacht. Darin bestimmen die AutorInnen nicht nur ihre politische Position und reflektieren die eigene Praxis kritisch, sie berichten auch von Erfahrungen aus ihren Territory and Mapping Workshops und bieten aus diesen entwickelte Kartensymbole als freie Ressourcen an. Es wird deutlich, dass narrative Kartierungen sich – ähnlich wie eine Sprache – erst in der Anwendung entfalten. Zugleich werden sie als Technik verstanden, die es erlaubt, vielfältige Wahrnehmungen nebeneinander in Erscheinung treten zu lassen. Iconoclasistas problematisieren die Nutzung von auf Basis militärischer Forschung erstellten Kartendaten und betonen nochmals die Notwendigkeit, narrative Strategien des community mapping taktisch zu nutzen, um herrschende Verhältnisse zu kritisieren.
Die Verantwortung für die Produktion kritischer Karten geht mit der Beachtung der Bedürfnisse der Personen einher, die in diesen repräsentiert sind. Daran erinnert der Leitfaden für solidarisches Kartieren, der 2013 von einem Wiener Kollektiv erarbeitet wurde. Auch hier wird auf das emanzipatorische Potential von Karten verwiesen, die Welt kritisch und in ihrer ganzen Vielfalt abzubilden und die Erwartung formuliert, Karten nach Möglichkeit als frei verfügbare gemeinsam nutzbare Ressourcen herzustellen. Dank solider Förderung wird This is Not an Atlas selbst diesem Anspruch gerecht. Das aufwändig gestaltete Buch ist nicht nur erstaunlich günstig zu erwerben, sondern steht erfreulicherweise auch online zum freien Download zur Verfügung.
Antje Lehn ist Architektin und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit der Stadt als Wissensraum, der Raumwahrnehmung von jungen Menschen, emanzipatorischen Lernräumen und partizipativen Kartierungsmethoden.