Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Von den Banlieues im Jahr 2005 bis zu den Suburbs von London 2011, von Exarchia in Athen 2009 bis zum Zuccotti Park in New York 2011 lässt sich eine neue Kartographie des Städtischen aufspannen. Es ist die Kartographie des urbanen Aufstands. Jener Orte, an denen sich der Aufstand formiert, der Widerstand organisiert, Menschen auf die Straße gehen, die Plätze besetzen. Doch der Widerstand geht weit über das Momenthafte und Ereignishafte, über die öffentlichen Zeichen der Besetzung hinaus.
Unter dem Titel Aufstand in den Städten. Krise Proteste Strategien hat Wolf Wetzel einen Band herausgebracht, der diesen Ereignissen nachgeht und herausarbeitet, dass es sich nicht um vereinzelte oder isoliert voneinander zu betrachtende Ereignisse handelt, sondern vielmehr um eine neue Bewegung, die aus vielen lokalen Bewegungen des Aufständischen gespeist wird. Wetzel, der Herausgeber des Bandes, ist langjähriger Aktivist in der außerparlamentarischen Linken. So war er beispielsweise als Autor der ehemaligen autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe tätig, die in den 1980er Jahren autonome Theorie und Alltagspraxis miteinander verband, war Teil der Startbahnbewegung gegen die Flughafenerweiterung in Frankfurt am Main und engagierte sich in der Anti-Golfkriegskampagne 1991 sowie in der Bundestagsblockade gegen die Abschaffung des Asylrechts. Seit 2011 ist er Vorstandsmitglied von Business Crime Control in Frankfurt.
Aufstand in den Städten versammelt vierzehn Beiträge, von denen neun von Wolf Wetzel selbst stammen. Wiewohl die Proteste in Tunis, Kairo, Dakar oder Hongkong in dieselbe Zeitspanne – in die Jahre 2011 und 2012 – fielen, sind sie dennoch in diesem Band mit seiner exzeptionell translokalen Ausrichtung nicht vertreten. Das Verdienst des Bandes liegt darin, dass Wetzel über die einzelnen Essays aus den lokalen Kontexten in Spanien, Italien, Frankreich, England, Griechenland sowie den USA hinausgehend, eine Analyse dessen liefert, wie der Aufstand als Praxis theoretisch zu fassen sei.
»Sind alle diese Proteste die späte Frucht vieler kleiner, marginaler Proteste, die späte Antwort auf Susan George, der man die Namensgebung der Gegenspielerin zu TINA [Margret Thatchers politischer Slogan:« There is No Alternative«; Anm.: E. K.] zuschreibt: TATA, also: There are thousands of alternatives?«, so fragt Wetzel im ersten Teil des Bands, der mit dem Titel Krise überschrieben ist. Er verweist auf die Bedeutung der Prozesse der Rückgewinnung demokratischer Selbstbestimmung am Beginn der Bewegungen und betont, dass »die Horizontalität der Beteiligung wichtiger ist als die Vorzüge einer zentralen Organisation.«
Der zweite Teil des Bands hat den Titel Proteste und beinhaltet Einzeldarstellungen der verschiedenen Städte und ihrer jeweiligen Aufstände: Die Künstlerin Anja Steidinger berichtet in ihrem Beitrag No nos representan (Sie repräsentieren uns nicht) über die Situation in den Städten Spaniens. Mathias Wåg, der gegenwärtig die seit 1898 bestehende anarchistische Zeitschrift Brand in Stockholm herausgibt, schreibt in Centri Sociali und Stadtkampf in Italien über Mailand, Bologna, Neapel, Rom und Turin. Thema des in Paris lebenden Bernhard Schmid, der als Journalist und Jurist einer antirassistischen Organisation tätig ist, sind die Unruhen in den Banlieues. Gerrit Hoekman, Chefredakteur einer Obdachlosenzeitung und während der Riots in England im August 2011 zufällig am Ort des Geschehens, informiert über die Chronik der Ereignisse der Plünderungen und Aufstände in den Suburbs und die Anti-Austerity-Bewegung. Randall Amster, der seit den 1980er Jahren in der US-amerikanischen Friedensbewegung aktiv ist, sich gegen Obdachlosigkeit engagiert und über Anarchismus publiziert, fragt sich gemeinsam mit dem in Stockholm lebenden Gabriel Kuhn, dessen Publikationsschwerpunkt ebenfalls der Anarchismus ist: »Occupy Wall Street: USA gegen die Krise?«
Diese aus der direkten AugenzeugInnenerfahrung gewonnenen Erfahrungsberichte und Perspektivierungen sucht Wetzel mit einem umfassenden dritten Teil in Strategien zusammenzuführen. Hier setzt er sich mit zwei Positionen auseinander, um die Aufstände in den Städten zu fassen: Einerseits mit derjenigen des dissidenten Marxisten John Holloway und zweitens mit der des so genannten Comité invisible (Unsichtbares Komitee). Holloway, Autor des Buches Die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, unterliegt, wie Wetzel zustimmend betont, im Unterschied zu Michael Hardt und Antonio Negri nicht der Versuchung »nach einem revolutionären Massensubjekt zu suchen«. Auch in der Auseinandersetzung mit dem 2007 vom Comité invisible veröffentlichen Buch L’Insurrection qui vient, das 2010 unter dem Titel Der kommende Aufstand von der Edition Nautilus auf deutsch herausgebracht wurde und vor allem im deutschen Feuilleton für eifrige Debatten sorgte, ist Wetzels Interesse wieder auf die Kritik an Hardt-Negri gerichtet. »Das Manifest entwirft ein Gegenbild zu Hardt/Negris Empire (…) Konsequenterweise verzichten die AutorInnen darauf, eine Multitude, das unbestimmte Bestimmte, als Widerpart und Hoffnungsträger zu kreieren.« Wetzel verbindet die beiden Positionen, die seine Strategien leiten, über die Argumentation, dass die »Negation nicht ausreicht, um über die Empörung hinauszuwachsen«. »Sie wird aber nur überleben, wenn sie Illusionen entwickelt, Utopien, Vorstellungen von dem entwirft, was über das Bestehende hinausweist.« Fast zu Ende postuliert Wetzel den Eingriff in das eigene Leben: »Der Gedanke der Commune meint nicht Flucht, sondern Wiederaneignung von Raum, von Wünschen, von Gestaltungsmacht. Es ist unser Leben, es ist unser Stadtteil, es ist unsere Stadt.«


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