Die Moderne als Fassadenreinigungsmaschine
Wer heute über die Fassade zu reflektieren versucht, hat einen aufwändigen Erklärungsparcours zu durchlaufen. Zunächst muss man vom einzelnen Gebäude absehen und die Frage in den städtischen Kontext stellen. Die Genese der Fassade als ein Gesicht des Hauses rührt von der Bedeutung eines face oder interface, das nach innen, aber vor allem nach außen wirkt und vermittelt.
Wer heute über die Fassade zu reflektieren versucht, hat einen aufwändigen Erklärungsparcours zu durchlaufen. Zunächst muss man vom einzelnen Gebäude absehen und die Frage in den städtischen Kontext stellen. Die Genese der Fassade als ein Gesicht des Hauses rührt von der Bedeutung eines face oder interface, das nach innen, aber vor allem nach außen wirkt und vermittelt. Natürlich kann man sich heute in einer Diskussion über die Gründerzeitstadt kaum auf Alberti berufen, obwohl seine Grundidee, dass die städtische Straße durch eine ununterbrochene waagrechte Dachlinie, den Rundbogen und die Wiederholung einheitlicher Elemente an der Fassade – Gesims, Fenstersturz, Fenster und Säule – gestaltet sein müsse[1], nach wie vor eine gewisse Sinnhaftigkeit birgt. Nur würde man in einer aktuellen, zeitgenössischen Interpretation vielleicht von einer einheitlichen Textur der Stadt sprechen, die durch ihr Gewebe von Gesichtern eine Einhüllung menschlicher Aktivitäten des Wohnens und Lebens ermögliche, die zugleich durch ihren anthropomorphen Charakter auch der Öffentlichkeit diene. An dieser Grundlage konnte auch noch die historistische Deutungstradition des 19. Jahrhunderts anknüpfen, da aufgrund eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses die Vorderseite des Hauses immer noch mit einer Fassade versehen wurde, wenngleich sich die kritischen Fragen zunehmend der Art des Dekors und der damit verbundenen Symbolik bzw. des Stils widmeten. Die symbolische Komponente der Fassade, die in zunehmender Weise durch die Frage nach der besseren Angemessenheit etwa des gotischen oder des Renaissancestils bzw. des richtigen Gesichts für die jeweilige Bauaufgabe charakterisiert war, wurde schließlich im Jugendstil einer letzten erfolgreichen Neuformulierung unterzogen. In gewisser Hinsicht wurde hiermit durch die Tendenz zum Individualismus und Expressionismus aber zugleich auch die Vorarbeit für ihre Abschaffung geleistet.
Die Moderne. Kunst als Energie
Die Moderne verstand sich – in ihrer allgemeinsten Form – als die Überwinderin der alten bürgerlichen Kunst, die mitsamt ihren Codes zu sehr in der Tradition verwurzelt schien und aufgrund dieses kompromittierenden Verhältnisses mit der Vergangenheit jegliche schöpferische Potenz verloren hatte. Diese vermeintliche Verlustangst, die mit einer von Nietzsche, Marx und Freud inspirierten Verachtung der bürgerlichen Kultur einherging, war auf der Suche nach einer neuen Kraft, die in der Natur selbst verborgen sei und deren Freilegung und daraus resultierender Vitalismus selbst neue Ströme des Schaffens hervorbringen würde. Auch wenn die Diskussionen dieser Zeit durch die Kritik an der Symbolik der unterschiedlichsten Kunstrichtungen und deren Auseinandersetzungen gekennzeichnet waren und man sich zu diesem Zeitpunkt über die eigene Motivstruktur weit gehend im Unklaren war, lässt sich heute leichter erkennen, dass die Grundfragen eher eine energetische denn eine zeichenhafte Dimension aufwiesen. Der Ausdruck sollte durch ein Übermaß an Energie charakterisiert sein, der Signifikant selbst hatte nur mehr sekundäre Bedeutung, weil die Kraft des Signifikats in Form einer diaphanischen Strahlung erkennbar wurde.
Im Sinne des nietzscheanischen Willens zur Macht war Kunst durch den Willen zur Energie geprägt, und analog zu Nietzsches Haltung war der Wille zur Macht ebenso amoralisch im Sinne einer unbeherrschbaren Naturkraft des Universums wie gleichermaßen zur moralischen Steigerung im Sinne einer Teilhabe an dieser gewaltigen Naturkraft geeignet. Diese widersprüchliche Grundhaltung mit der Negation der romantischen Seite der Natur und der Kooperation mit ihrer Energetik konnte für die klassische Ästhetik nur Verachtung empfinden, da der Wille zur Macht ja selbst den höchsten Rang eines Kunstwerkes erreicht, der auf die anderen Werke hinunterblickt. »Wenn die Welt ein Kunstwerk ist, so nicht als ein Organismus, sondern sie ist in aller Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen.«[2] Daher kann die Ästhetik nicht auf harmonische Modelle zurückgreifen, sondern muss formlos sich dem energetischen Ablauf der Welt selbst anpassen. Dieser gleicht einer Produktion der Welt selbst, das Universum entlässt aus Gründen der sinnlosen Selbsterzeugung Einheiten aus sich, der Künstler kann in seiner privilegierten Rolle an diesem Prozess zur Selbststeigerung und Selbstschöpfung teilnehmen.
Der Künstler ist Übermensch und kann sich nicht durch die Eunuchen der Kritik beeinträchtigen lassen, Kunst ist Verzückung und Ekstase, und der Künstler hat über einen außerordentlichen Körper zu verfügen, der ihn zu einer Kombination von sinnlichem Rausch und nonchalanter Kritik befähigt, und er ist mit dem prächtigen Selbstvertrauen ausgestattet, das ihn dazu ermächtigt, dem Material seine gewünschte Form aufzuzwingen. Man wird in architektonischen und urbanistischen Zusammenhängen Namen wie die einiger russischer Konstruktivisten oder den Le Corbusiers erwähnen müssen, die in ihrer schöpferischen Kraft und Selbstermächtigung eine Neuerfindung der Stadt und der Architektur anstrebten, wobei Le Corbusier insofern den Vogel abschoss, als er nicht nur eine Neuerfindung, sondern zugleich auch den Abriss von Paris vorschlug.
Die aggressive Tendenz dieser Architektur, unabhängig von grandiosen Einzelleistungen, die oft mit großer Zerstörungslust verbunden ist, hat sich bis heute erhalten und beruht eben auf der nietzscheanisch inspirierten Künstlerfigur, die sich zu derartigen Handlungen ermächtigt fühlt. Die neue Stadt aus den Architekturfantasien erhebt sich entweder auf riesigen Stelzen über den vergessenen alten urbanen Landschaften, oder sie findet auf Naturgrund, Feldern oder Wiesen statt. Die Erprobung neuer Raumwelten hat mit der herkömmlichen Stadt nichts mehr zu tun. Der Begriff des Architekturraumes dieser Tage steht konträr zum Begriff der historischen Stadt, die eigentlich gar nicht mehr existiert, von den Architekten bereits aufgegeben oder eigentlich völlig vergessen ist. Es wäre auch schwer vorstellbar gewesen, dass jemand, der neue Städte entwirft, sich einer peniblen Aufgabe wie der genauen Zeichnung einer ornamentierten Fassade unterziehen könnte. So wurde jeder Form der Mimesis kontemplativer Natur, wie sie etwa in Kants Vorstellungen des interesselosen Blickes auf die Kunst enthalten ist, eine radikale Absage erteilt. Kant, der den Versuch unternommen hatte, durch die Idee der Interesselosigkeit eine Entbindung des Schönen aus dem Feld des Begehrens vorzunehmen, ist mit dem vornehmen Ansatz dieses Konzepts heute in einer Massenkultur des Begehrens und des medienindustriell verbreiteten starken Reizes zum Scheitern verurteilt.[3]
Durchdringung. Einheit von Innen und Außen
In der Geschichte der modernen Architektur und bildenden Kunst ging der Anspruch des nietzscheanisch informierten Künstlers auf die Entdeckung der inneren, verborgenen Natur der Dinge und ihrer Freilegung mit dem Versuch der Entwicklung einer neuen Sehkultur einher. Ihr kam vor allem in der neu aufgekommenen abstrakten Malerei und dem Kubismus große Bedeutung zu, da man sich in diesen künstlerischen Verfahren neue Medien zur Durchdringung der Oberflächen und Herstellung von Transparenz zur Sicht des wahren inneren Wesens des Objektes erhoffte. Man denke etwa an Wassili Kandinskys Theorie der Farben und der Synästhesie der Künste, wie sie Kandinsky durch Arnold Schönbergs Musik verwirklicht sah, die jeweils als der wahre Ausdruck einer Sache galten. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für eine Theorie des durchdringenden Blickes lieferte Sigfried Giedion, indem er ein Gebäude von Walter Gropius mit einem Bild Pablo Picassos verglich: »Die Glaswände flossen ineinander, gerade an dem Punkt, wo das menschliche Auge gewöhnt war, einen sichernden Pfeiler vorzufinden. Manifestartig erschien hier zum ersten Mal in einem großen Komplex die Durchdringung von Innen- und Außenraum wie in Picassos L’Arlésienne von 1911 bis 1912 mit seiner simultanen Darstellung von Profil und en face eines Gesichtes, wie sie hier in die Architektur übersetzt wurde und gleichfalls mit dem einzigen Blickpunkt brach.«[4]
Der Vergleich der Durchdringung von Innen- und Außenraum eines Gebäudes mit der Dekonstruktion eines Gesichtes ist für uns insofern bedeutsam, als er hier den Wunsch nach einer Auflösung der Oberfläche zum Zweck des Eindringens in das Innere, das Wesen, zum Ausdruck bringt, die im Falle des Gesichtes auf der Suche nach einem authentischen Kern mit einer Auflösung der organischen Form einhergeht. Man kann in einem kubistischen Portrait ein Gesicht zugleich von vorne und von der Seite sehen. Der neue kubistisch informierte Blick wäre in der Lage, durch die simultane Einnahme mehrerer Standorte den herkömmlichen Sehraum zu transzendieren, indem er zugleich zwei unterschiedliche Perspektiven eröffnet.[5] In beiden Fällen geht es also um eine Durchdringung des Raumes mit einem die anthropomorphen Grenzen überwindenden Blick, der Wände und Gesichter auflösen kann und sich nicht von der Materie begrenzen lässt.
So wird im Falle des Gebäudes die Fassade durch Glas ersetzt und erlaubt durch den freien Einblick in die Konstruktion die Aufhebung der Grenze zwischen Innen und Außen und damit ebenso die vermeintliche Erfassung des wahren Wesens. Dass hier nebenbei die Definition von festen Raumkörpern und räumlicher Orientierung zugunsten einer Fantasie der Verschmelzung aufgegeben wurde, ist eine weitere bemerkenswerte Tatsache, die eigentlich den strengen geometrischen und puristischen Vorstellungen von Raumbegrenzung in der Moderne zuwiderläuft, aber zugleich jene Erfahrung des Rausches im Zustand der nüchternen Askese ankündigt, die eine Entwicklung der Dematerialisierung vorbereitet. Die Moderne versuchte, eine Technologie der Einheit herzustellen, in der sie die rauschartigen, dionysischen Elemente der Grenzüberschreitung und Auflösung von Subjekt und Objekt mit den apollinischen Elementen der Klarheit und Perfektion der Form in Verbindung bringt. Begriffe wie neue Optik, Transparenz und Durchdringung stehen für eine ästhetische Programmatik der Moderne, in der durch eine Mediatisierung des Blickes und neue künstlerische Verfahren das Erlebnis der Einheit von differenten Raumwelten eingeleitet und realisiert werden soll. Die überkommene einseitige Position der Perspektive sollte durch eine neue unverstellte und illusionslose Wahrnehmung abgelöst werden, die eine höhere Befähigung, den Dingen auf den Grund zu gehen aufweist. Es ist diese merkwürdige Kombination von Purismus, Askese und nüchterner Kälte, die die bildende Kunst zur Mobilisierung von Kräften zur Durchdringung der Materie anleitet. Der apollinische Traumcharakter der Stadtwelt von Le Corbusier und anderen Urbanisten geht mit einer unterschwelligen, nur selten explizit formulierten dionysischen Tendenz einer dynamischen Ontologie des Werdens und Wechseln einher, »die dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selbst-Zerstörens.«[6] Aber der Charakter dieser Kräfte entspricht eher den durch die Maschine entfesselten Naturkräften, den technischen Strahlungen, die durch die Molekülstruktur des Gegenstandes hindurchgehen können.
Der richtige Grundriss generiert das Außen
Corbusier schreibt angesichts der Kuppeln und Gewölbe der türkischen Moscheen: »Ein Bauwerk ist wie eine Seifenblase. Diese Seifenblase ist vollendet und harmonisch, solange der Atem gut verteilt und von innen her gut reguliert ist. Das Äußere als Resultat des Inneren.«[7]Der Grundriss als die generierende Form des Inneren bewirkt das Außen. Hier kommt wieder die Priorität des Grundrisses ins Spiel, der im optimalen Fall auch die äußere Form bestimmt. Nun gelten für religiöse Bauten ungleich größere Freiheiten in der Grundrissgestaltung als sie beim zentralen Typus der urbanen Textur, dem Mietshaus, möglich sind. Es ist aber nicht die Form des Tempels, sondern die des Mietshauses, die das Grundgewebe der Stadt bestimmt.
Mit der Umreihung der Bauaufgaben Ende des 19. Jahrhunderts kam dem Wohnungsbau erstmals eine führende Rolle zu, die sich aufgrund der sozialen Problematik und der Arbeiterfrage ergeben hatte. Architektonische und soziale Probleme schienen so eng verknüpft, dass man durch den richtigen Grundriss die Lösung beider Problemkreise zugleich zu erreichen glaubte. Von hier nahm die unglückliche Formel der Verklärung unwürdiger Wohnverhältnisse durch die Fassade ihren Anfang und fand bald erfolgreichen Eingang in die Politpropaganda. Das betraf, nebenbei gesagt, nicht nur die sozialistische, sondern auch die Nazipropaganda, die damit erfolgreich gegen jüdische Hausherren polemisierte.
Im Denken des Funktionalismus erlangte also der Grundriss nicht nur den Vorrang, sondern im Sinne des vermeintlichen Fortschrittes wurde auch die Überwindung des Ornamentalismus gefeiert. Für sozialistische Gesellschaften galt[8]: Der richtige Grundriss macht die verlogene Fassadenkunst überflüssig, er bringt automatisch die richtige Form hervor und macht die Scheinproduktion der Fassade, die nur dem Gebrauchswertversprechen zur Erhöhung des Tauschwertes dient, überflüssig.
Fassade revisited. Fassade als Gesicht
Damit wenden wir uns der Fassade erneut zu: Denn in der Betrachtung der Fassade werden uralte, längst vergessene anthropologische Fragen des Gesichtscharakters und der Möglichkeit der Erkenntnis von Außen und Innen aktualisiert.
Das Fenster als das wichtigste Fassadenelement des Gründerzeithauses kann ebenso wie das Auge im Gesicht nur deshalb als Garant einer Physiognomie bestehen, weil es neben dem funktionellen Zweck des Lichteinfalls auch ästhetische und kommunikative Zwecke erfüllt. Die Ähnlichkeit zwischen dem Fenster und dem Auge beruht auf einer mehr als augenscheinlichen Analogie. Das Fenster weist den selben Doppelcharakter wie das Auge auf, indem es einerseits einem Gegenüber zugewandt ist, das im Außen liegt, aber zugleich in ein Inneres, ein Zentrum führt.
Die Fenster des Hauses sind immer die Augen des Gesichtes, der Fassade. Die Herausbildung eines Gesichtes durch die Verwandlung der Säugetierschnauze ist ein menschliches Spezifikum und spielt in der Mutter-Kind-Beziehung eine grundlegende Rolle, die sich sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch äußert. Die Bedeutung des Gesichtes als soziales Medium verläuft zwar über den gesamten facialen Ausdruck, aber eine Hauptrolle der Augen ist unbestreitbar. Sie sind wichtige Indikatoren der Emotion und drücken aufgrund unwillkürlicher Muskelbewegungen mit anderen Gesichtsteilen zusammen Überraschung, Angst, Ärger, Ekel, Glück oder Trauer aus, wobei nicht nur der Gesichtsausdruck, sondern auch die Dauer und Fixierung des Blickes entscheidend sind. Dennoch, trotz des möglichen Ausdrucks momentaner Emotionen erkennt man am Auge, dass die Verbindung zwischen Innen und Außen niemals wirklich klar ist. Man kann zwar die Offenheit des klaren Blickes ebenso spürbar erleben wie die leichte Verstörung, die der verschleierte oder verdeckte Blick erzeugt, aber der Rückschluss auf einen damit verbundenen Status des Inneren ist, abgesehen von kurzfristigen Befindlichkeiten, letztlich immer illusionär, wenngleich man auch nicht ohne ihn auszukommen glaubt. Äußeres ist immer potenzielle Maske.
Gleichwohl ist dieser Rückgriff auf das Innere unvermeidlich und die Attraktion der Schönheit beruht ebenso auf dem Verdacht eines edlen Kerns, wie die abstoßende Wirkung des Hässlichen durch die Furcht vor einem bösen Zentrum begründet ist. Die Illusion der Moderne beruht auf der vermeintlichen Möglichkeit eines alles durchdringenden Blickes, einer Einebnung der Barrieren zwischen Innen und Außen, einer Transparentmachung des Innen durch Öffnung und Sichtbarkeit. Daraus folgt die irrtümliche Vorstellung, dass die Fassade der Verschleierung diene und deren Entfernung und Ersetzung durch Glas ein Innen im Sinne eines Raumes höherer Wahrheit freilegen könne. Das ist zwar im naiven topologischen und architektonischen Sinne möglich, aber in einem tieferen anthropologischen und philosophischen Kontext nicht leistbar. Damit sind auch alle damit verbundenen Hoffnungen auf die Entfernung des Scheins unrealistisch.
Postrevolutionäre Gesellschaft und theatrum mundi
Ausgangspunkt für diesen Versuch einer Entbergung ist die bürgerliche Gesellschaft, die sich nach der französischen Revolution herausgebildet und jenen Typus von Öffentlichkeit, der den Kriterien der Aufklärung verpflichtet war und bereits im ancien régime existierte, weiterentwickelt hat. Zugleich aber hatte sich durch den Niedergang der Aristokratie eine neue soziale Sphäre entwickelt, die ungleich mehr Begegnungen von Bürgern unterschiedlichster sozialer Provenienz zuließ und in der der soziale Ort und die Herkunft der handelnden Personen nicht mehr klar waren. Das aufstiegsorientierte bürgerliche Individuum musste seine bescheidene Herkunft verbergen und eine Rolle spielen, in der es mehr schien, als es war. Damals trat die Frage der Orientierung in einer flüchtigen Begegnung und der Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit seines Gegenüber zu erkennen, auf und verlieh den physiognomischen Theorien und der Interpretation der Zeichen des Äußeren große Bedeutung. Der Begriff des theatrum mundi erlangte höchste Aktualität, und das Tragen einer Maske im gesellschaftlichen Leben wurde zur Notwendigkeit. Als Basis der Orientierung galt zunächst der Habitus des Aristokraten, der das höchste Maß an Würde und damit einhergehender Überzeugungskraft bewies und die Autorität am besten verkörperte. Dem Großbürgertum gelang die Nachahmung am besten, das Kleinbürgertum sorgte für die weniger gelungenen und missglückten Varianten. Aus der damals irrigen, aber weit verbreiteten Annahme, dass es sich bei habituell erworbenen, also sozial vermittelten Eigenschaften um natürliche Merkmale des Charakters handle, rührt auch die Überschätzung der Physiognomie als Spiegel des Charakters bzw. der Möglichkeit, einen Menschen aufgrund seines Gesichtes beurteilen zu können.
Die Ablösung von der Autorität
Ästhetik und Autorität gingen im 19. Jahrhundert eine neue Verbindung ein, die bis heute strukturelle Wirkung zeigt. Der Prozess der Aufklärung hingegen, der ebenso selbstläufig verlief und dessen Ziel in der Durchsetzung der Vernunft und der Befreiung des Selbst von der Allmacht der Autorität bestand, glaubte durch deren Demaskierung einer Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Wer den Verführungskünsten der Autorität erlegen ist und dies erkannt hat – eine Einsicht, die jeder Emanzipation denkende Bürger im 18. und 19. Jahrhundert nehmen musste –, hat das Bestreben, sich durch Selbstreinigung davon zu lösen, da die Verführung durch die Autorität mehr Wirkung als ein äußerer Zwang erzeugt hat, ins Innere eingedrungen ist und man selbst Schuld für das Nachgeben trägt. Die Rituale der Ethnologie lehren uns schon, dass gegen den Einfluss böser Geister, der auch immer nur als ein Eindringen in die Seele verstanden werden kann, nur extreme Reinigungshandlungen Schutz bieten.[8]
Grosso modo verfällt auch die gesamte klassische Kunst immer dann diesem Verdikt, wenn sie in spezifischen sozialen Kontexten gedacht wird. Insbesondere die klassische Architektur verkörpert in ihrer Gebundenheit an das Ornament und als vermeintlicher Ausdruck der Autorität jenen Kunstfall, von dem es sich abzulösen gilt und der einer Reinigung zu unterziehen ist.
In diesen Zusammenhang fällt nun die Diskussion über das Ornament, die das 19. Jahrhundert intensiv beschäftigte, die von John Ruskin über Gottfried Semper bis zu Adolf Loos führte und im 20. Jahrhundert durch die Moderne beendet wurde. Die Grundfrage ist trotz der häufig verworrenen Argumentation die nach der Echtheit des Ausdruckes von Ornament im Zeitalter der Maschine und des industriellen Bauprozesses. Im Wesentlichen läuft die Debatte auf eine Absage an die organisch geformte Architektur hinaus, die dem Historismus noch vorschwebte und die die prozessualen Momente der gestaltenden Organisation, die Ökonomisierung der Wohnung und letztlich die Taylorisierung aller Lebenszusammenhänge in den Vordergrund stellte. Architektur wurde nun in Begriffen der Produktion und der sozialen Funktion gedacht. Auch die Marx’schen Analyse in den Grundrissen, die sich mit den Konsequenzen der Einführung der Maschine in den Arbeitsprozess befasste, sah Arbeit nur mehr als untergeordnetes Moment im Gesamtprozess eines riesigen maschinenhaften Organismus. Damit hatte sie auch ihren gestaltenden übergreifenden Charakter verloren. Wenn die Maschine jene Kunsttypen, die nur mehr in Warenform auftauchen, entzaubert, so muss man sich aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit einen völlig neuen ästhetischen Gehalt in der Architektur erhoffen, der auf keinen Fall in der Fassadenbildung liegen kann. Die Fassade wird zu diesem Zeitpunkt immer weniger verstanden und kann auch nicht mehr begriffen werden.
Demaskierung der Fassade
Auch wenn es am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem im Jugendstil zu Versuchen einer Ornamentierung kommt, die einen zeitgemäßen künstlerischen Ausdruck der Fantasie anstrebt und auch in die Fassadengestaltung eingeht, wird Fassade als Schein, als Maske einer überholten bürgerlichen Gesellschaft angesehen. »Ornament und Verbrechen, die verlogene Vätermoral, bürgerliche Gattin, eine Jungfrau vor dem Altar, in der Synagoge, aber Bordellbesuchsfreuden, Promotionsfeier im Etablissement der Frau Rosa, Paradesäbel um den nackten Bauch, das konnte sich nur hinter staubigen Makartbuketts zwischen polsterschweren Kanapees, bei Täbrisläufern, vor Vitrinen mit lachenden falschen Chinesen erhalten.«[9] Gewichtige Argumente oder besser polemische Zuspitzungen kommen bekanntlich von Adolf Loos, der seine Abscheu vor dem Ornament nicht verbirgt. Im Grunde richtet sich seine Kritik zwar gegen das maschinell erzeugte Ornament, das er als Kitsch betrachtet. Er dehnt aber seine Invektiven im Ton doch so stark aus – stets ist vom Verbrechen die Rede –, dass man diese Differenzierung nicht mehr heraushören kann. Und wenn Loos das Schmücken von Gebäuden mit den Tätowierungen primitiver Stämme wie denen der Papua vergleicht und es mit Degenerationszeichen, die nur mehr bei »latenten verbrechern und degenerierten aristokraten«[10] in Anwendung stünden, gleichsetzt, gewinnt der polemische Diskurs die Oberhand und schlägt sich auch in einer entsprechenden Wirkungsgeschichte nieder. Der rührende Nachruf auf den alten Veillich, der ihm seine Chippendalemöbel gebaut und damit Kopien eines englischen Klassikers des 18. Jahrhunderts angefertigt hatte, kann hier auch nichts mehr zur Rehabilitierung des Ornaments ausrichten.
Fassade und Ornament als Zeichen der Todesnähe
Der Papua – ein Vergleich von Loos, oder das von Marx aufgebrachte Bild vom Fetischcharakter der Ware – um nur zwei repräsentative Beispiele zu nennen: In beiden Fällen wird das Ornament als überkommene Naturform, als regressives Zeichen längst überwundener Gebräuche gezeigt. Aber hier ist kein Moment einer ins Positive gewendeten Geschichtlichkeit, einer schönen Allegorie des Vergänglichen zu spüren. Im Gegenteil: Das Ornament wird von der Avantgarde als Allegorie einer erstarrten Landschaft gesehen, der Fassadenschmuck der Bilder und der versteinerten Elemente aus der Natur als Zeichen des Verfalls interpretiert. Die Gründerzeitfassade erscheint in diesem Kontext als Maske, die den Tod verbirgt. Walter Benjamin weiß genau um den Doppelcharakter der Allegorie und ihrer Bedeutungsfähigkeit zum Tod: »Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein, in einem Totenkopf aus (...)« Der künstlerische Zeitgeist jener Jahre, der radikal auf Zukunft eingestellt ist, kann die Allegorie nur ablehnen. Damit wird aber auch auf das verzichtet, was Benjamin in der Fortsetzung des Satzes so formuliert: »(...) es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit des einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus (...) Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen des Verfalls.«[11] Die Aufbruchsorientierung der damaligen Massenbewegungen in der Gewissheit des geschichtsphilosophisch versicherten Fortschrittes der Avantgarde vermeidet jeglichen Blick auf die Maske, in der sie den Tod zu erblicken fürchtet. Es zählt zur Paradoxie der Geschichte, dass zahlreiche von ihnen im Bewusstsein des geschichtlichen Fortschrittes auf ihrer Seite dafür unter Vermeidung des Blickes auf die Maske geradewegs in den Tod selbst gingen.
Fassade und Ornament als Maskenspiel
Im Quattrocento wurde in Rom ein antikes Motiv der Dekoration entdeckt, das den Ausgangspunkt für den Groteske-Stil der italienischen Renaissance bildet, der die Maske selbst als Thema aufgreift. [12] Als Vorlage dienten Motive des antiken Dionysos-Kultes, und sie wurden auch in die Fassadengestaltung der alten Ordnung Vitruvs integriert, obwohl es deren Grundprinzipien zuwiderlief [13], kultisch-rituelle Darstellungen bacchantischer Spiele an den Fassaden anzubringen. Diese Stilelemente der auf Opfer- und Mysterienkulte zurückgehenden Ornamente wirkten auch auf das nordische Rollwerk und den barocken Ohrmuschelstil ein. In dieser Kunstform kündigte sich bereits die Auflösung der klassischen Ästhetik an, indem sie das Groteske, das Ungewöhnliche und Deformierte thematisierte, aber zugleich in den bestehenden Fassadenschmuck einfügte und somit einen Freiraum der Einbildungskraft und des Imaginären schuf, der wieder zur Maske zurückführte. Diese Tradition des Ornaments wurde bis ins 19. Jahrhundert beibehalten und ist etwa bei Louis Sullivan noch zu beobachten. Das Grundprinzip der Maske ist paradox. Sie ist auf der Bühne des griechischen Theaters ein Medium, um die Abwesenheit in der Gegenwart auszudrücken. [14] Im Drama von Euripides »Die Bakchen« erscheint Dionysos mit der Maske als eine Verdoppelung der zentralen Figur des Pentheus und Verkörperung seines Innen. Da aber das Innen nicht zugänglich ist, wird seine Abwesenheit trotz der maskenhaften Präsenz am stärksten spürbar. Immer wieder wird während des Stückes betont, dass es keine Form der Erscheinung dieses Gottes gebe und keine Form, die ihn einschließen könne. Um Dionysos zu sehen, muss man in jene Welt eingehen, in der das Andere herrscht und das Selbst keine Macht hat. Die Maske spielte in der Kunst der griechischen Antike auch eine fundamentale Rolle, indem sie das radikal Andere in der Gestalt der beunruhigenden Fremdheit des Antlitzes, der Maske der Gorgo darstellte. Sie ist die Macht des Todes, von der man sich abwendet, ohne ihr entrinnen zu können. Der Blick in die Maske Gorgos ist eine Spiegelung des Selbst, das sich unerreichbar gegenübersteht.
Für ein Ende des Reinigungsprogrammes
Die Moderne hat diese Zusammenhänge bis heute nicht richtig verstanden. Sie vertraut auf die Prinzipien der vermeintlichen Öffnung, der Entbergung, der Möglichkeit einer absoluten Transparenz des Innen. Sie baut Räume ohne Spuren, da ihr jede Erinnerung an kreatürlichen Verfall zuwider ist. Wenn Wohnen – nach einem Satz von Walter Benjamin – Spuren hinterlassen heißt [15], so bezeichnet dies die Erinnerung daran, dass immer schon jemand hier gewesen ist und Hinweise auf den Besitz von Dingen hinterlassen hat. Diesem Geschichtsverständnis des Historismus setzt die Moderne den neuen Raum, der sich durch absolute Durchsicht auszeichnet, entgegen. Dieser Raum ist von allem Vergangenen gereinigt, durch die Härte und Glattheit des Materials Glas kann sich nichts festsetzen, keine Spuren verweisen auf jemanden, der schon hier gewesen ist. Die Konstrukteure gehen immer von einem ersten Menschen aus. Die Räume scheinen einer Wahrheit zu entsprechen, die auf der Entbergung des geheimen Innen beruht. Die Griechen jedoch wussten bereits um die Unmöglichkeit dieses Vorhabens und haben sie durch die Invention der Maske auf der Bühne immer wieder dargestellt. Die Moderne, in Unkenntnis dieses Sachverhaltes, glaubt den Raum nur von innen heraus entwickeln zu können, der kraft dieser Authentizität auch außen und bei jedem Verzicht auf schmückende Eingriffe einen selbst genügenden Ausdruck für den Betrachter bilden soll. Demnach müsste der Prozess aus sich selbst heraus sichtbar werden, eine Diaphanie des Schaffens hervorbringen, die eine separate Gestaltung des Außen nicht nur überflüssig, sondern geradezu frevelhaft erscheinen ließe. Erst die Erfahrungen eines Jahrhunderts mit den ästhetischen Auswirkungen des Taylorismus, Fordismus und der daraus resultierenden Architektur machen eine neue Blickweise möglich, die wieder die heilende Wirkung der Allegorie, des Gedächtnisses und der Fassade diskutabel macht. Auf die Realität des Städtebaus nimmt dies aber nur geringen Einfluss.
Fußnoten
Lewis Mumford, Die Stadt, München 1984, S. 406 ↩︎
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Werke, Hg. G. Colli und M. Montinari, Berlin und New York 1973, Bd. V2, S. 16 ↩︎
Konrad Paul Liessmann, Reiz und Rührung, Wien 2004, S. 58 ↩︎
Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur, Zürich und München 1984, S. 311 ↩︎
Richard Sennett, Civitas, Frankfurt 1991, S. 139 ↩︎
Friedrich Nietzsche, KGW VII 3, S. 339, zit. nach: Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens, Pfullingen 1985, S. 48 ↩︎
Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, Wiesbaden 1984, S. 136 ↩︎
Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung, Frankfurt 1988 ↩︎
W. G. Fischer, Wohnungen, München 1969, S. 96 ↩︎
Adolf Loos, Trotzdem, Wien 1982, S. 78 ↩︎
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt 1982, S. 145 ↩︎
Ernst H. Gombrich, Ornament und Kunst, Stuttgart 1982, S. 290 ↩︎
Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt 1996, S. 333 ↩︎
Jean-Pierre Vernant, Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragédie en Grèce ancienne, Paris 2001, Kapitel 2 und 10 ↩︎
Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Bd.1, Frankfurt 1982, S. 53 Manfred Russo. Die Moderne als Fassadenreinigungsmaschine Seite 5, 16.06.04 ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.