Die Ränder der Stadt
Negativräume im postsozialistischen SofiaFunktionelle Fragmentierung und planerische Unbestimmtheit charakterisieren einen wesentlichen Teil europäischer Stadt-Landschaften. Die Ränder der Städte, ihre Peripherien, rücken ins Zentrum der fachlichen Aufmerksamkeit (vgl. Sieverts 1997, Cupers/Miessen 2002, Bölling/Sieverts 2004, Ferguson 2006). Das Unbestimmte, Undefinierte, Vergängliche bilden dabei Referenzpunkte, die den Peripherien als Attribute zugeschrieben werden. Mit dem Konzept der ephemeren Landschaften (Qviström/Saltzman 2006) werden die Aspekte der Vergänglichkeit (griech. ephemeros: für einen Tag) und der Alltäglichkeit beleuchtet und wird auf die vernacular landscapes von J. B. Jackson verwiesen. Die Kurzlebigkeit der materiellen Struktur dieser Landschaften ist verknüpft mit den sozialen und kulturellen Dimensionen des Vergänglichen und setzt einen Kontrapunkt zur Dauerhaftigkeit gebauter Strukturen. Die Transformation bildet daher einen wesentlichen Fokus bei der Betrachtung der Ränder. Im Prozess ihrer Neuverhandlung und Neuinterpretation spiegelt sich ihr Verhältnis zur Dauerhaftigkeit wider.
© Philipp RodeZur Annäherung an eine Definition der Peripherie verwendet die Gruppe Stalker den Begriff des Negativraums: „Viele Städte sind heute in zwei verschiedene Perspektiven oder Zonen aufgeteilt. Bei der ersten, die wir für die positive halten, handelt es sich um den Raum, in dem wir alle als Gesellschaft leben und handeln. Er stellt das normale Stadtentwicklungsmuster dar. Die zweite, negative Zone umfasst verlassene Flächen und Räume, die nicht auf das positive Muster übertragen werden können, aber dennoch in einer osmotischen Beziehung dazu stehen“ (studio eu und Stalker: 2006). Die Stadt könnte demgemäß als Schwarzplan gesehen werden, in dem die Leerstellen die Negativräume darstellen. In dieser Zuordnung erfolgt eine Interpretation des Bedeutungsgehalts der jeweiligen Orte. Der Positivraum ist als signifizierter Raum zu verstehen, mit Bedeutung gefüllt und definiert. Der Negativraum ist dagegen nicht- oder designifiziert. Indem er verlassen wurde, hat er seine frühere Bedeutung verloren. Dieser Prozess der Zuweisung von Bedeutung an verschiedene Stadträume steht in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Werten und Akkumulationsmustern. Damit wird auf den umfassenden Gehalt von Raum verwiesen, der nicht nur seine physische Erscheinung sondern auch seinen Bedeutungsinhalt thematisiert.
Die Beschreibung und Analyse des Negativraums im postsozialistischen Sofia war das Ziel eines dreimonatigen Forschungs-stipendiums im Sommer 2006, das von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Förderungsschiene MOEL plus des BM:BWK vergeben wurde. Während der Positivraum einer Stadt und seine dauerhaften Strukturen für ausländische Forschende je nach Fachgebiet relativ leicht zugänglich sind, erfordert die Erforschung des Negativraums eine experimentelle Methodik. Die antizipierte Leere des Raums korrespondiert mit dem Nicht-Vorhandensein von Kartographien, Beschreibungen und sonstigen Quellen. Der Stadtraum selbst wird daher zur Quelle der Erkenntnis und der Blick auf ihn zum maßgeblichen Aufnahmemedium. Die Konstruktion des Negativraums folgt subjektiven Bewertungen, die durch kulturell geprägte Wahrnehmungsmuster beeinflusst werden. Zum Auffinden des gesuchten Negativraums in Sofia wurden ziellose Erkundungsgänge durch unterschiedliche Stadträume unternommen. Im Vorhinein wurde nur der ungefähre Stadtbereich definiert, durch den das dérive führen sollte. Der genaue Ausgangspunkt der Routen wurde entweder erst auf der Fahrt ins Untersuchungsgebiet festgelegt oder aber folgte bestimmten Vorgaben – z.B. eine Straßenbahnendhaltestelle ; ein signifikanter Anfangspunkt – z.B. ein peripherer Einkaufskomplex. Die Routenwahl selbst wurde gänzlich von der subjektiven Befindlichkeit während des Gehens und dem topologischen Kontext bestimmt.
Der Negativraum von Sofia
Zunächst erscheint der Großteil des öffentlichen Freiraums in Sofia als Negativraum. Aufgrund der mangelnden Pflege sogleich auf einen Designifizierungsprozess zu schließen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der Rand der Stadt konstituiert sich in den Lücken, die die sozialistische Stadtentwicklung offen gelassen hat, in den verlassenen Zonen der Industrieareale, die durch den strukturellen Umbau der Stadtökonomie seit den 1990er Jahren entstanden sind und in den entwerteten Restflächen, als Ausdruck funktionalistischer Infrastrukturplanung. Eine flächendeckende Erhebung und eine vollständige Typologie des Negativraums von Sofia überstiegen den Rahmen des Stipendiums, deshalb sollen an dieser Stelle die Erkundungsgänge zu drei ausgewählten Negativräumen charakterisiert werden. Die Strukturierung der Spaziergänge folgt den Kriterien des Weges, der Grenze, des Gebiets, des Knotens und des Wahrzeichens nach Kevin A. Lynch. Damit werden die vorhandenen physischen Elemente nach psychogeographischen Begriffen interpretiert. Eine ähnliche Vorgehensweise entspricht der Analyse entlang den Begriffen aus der Schule der Andersheit von Wolfgang Welsch: Störung, Heterogenität, Fremdheit, Divergenz.
Von der Zuckerfabrik zum Westpark
Die Endstation der Straßenbahnlinie 3 liegt an der Schnittstelle zwischen Wohn- und Industriegebiet, am Rande eines Parks und der Kreuzung einer wichtigen Ausfallstraße nach Westen mit einer Gleisanlage. Die Zuckerfabrik wurde in den 1920er Jahren errichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt. Das Areal wurde teilweise zu einer verwirrenden Ansammlung von Autowerkstätten umgewandelt; die Fabrikshallen selbst wurden und werden für Lagerzwecke benutzt. In den 1940er Jahren wurde daran angrenzend mit deutscher Hilfe eine Siedlung errichtet, die dem Ideal des nationalsozialistischen Siedlungsbaus entspricht. Eine dichte, waldartige Zone markiert das Ende des Wohngebiets. Die Straße folgt einem Geländesprung, der von einem Fluss stammt, an dessen gegenüberliegendem Ufer beginnt ein heterogenes Industriegebiet, charakterisiert durch die Einschränkung des öffentlichen Raums auf die Fläche der Fahrbahn und großflächige Parzellen, die durch teils blickdichte Zaunanlagen abgeschlossen und in niedriger Dichte bebaut sind. Die Durchgängigkeit dieser Organisationsform wird immer wieder durch unentwickelte Parzellen durchbrochen. Als Pufferzone zwischen Wohn- und Gewerbegebiet fungiert der Flussraum mit den topographischen Elementen eines Talbodens und der begrenzenden Böschung der Flussterrasse sowie einer begleitenden Flussvegetation und Gehölzen entlang des Abhangs. Diese Pufferzone liegt im Anschluss an den Westpark (Zapaden Park), der ab 1957 realisiert wurde und ein Bestandteil des übergeordneten Freiraumsystems ist, das aus großen Parkanlagen besteht, die in Teilbereichen landschaftlichen Charakter aufweisen und keilförmig von der offenen Landschaft in das dichtbebaute Stadtgebiet reichen. Noch 1985 war die Zone als Erweiterung für den Westpark vorgesehen, wurde allerdings nicht realisiert.
© Philipp RodeDer Westpark stellt sich als homogener Raum mit klaren Grenzlinien und einer definierten Nutzungsstruktur als vegetativ geprägter Erholungsraum dar. In seiner materiellen Beschaffenheit wie in der ideellen Konstruktion als sozialistisches Arkadien spiegelt er Beständigkeit und Dauerhaftigkeit wider. Der Raum der Pufferzone präsentiert sich demgegenüber heterogen und räumlich-funktionell fragmentiert. Entlang der Ränder haben sich unterschiedliche Nutzungseinheiten entwickelt: ein Einfamilienhausgebiet mit kleingewerblichen Einsprengseln hat sich noch in sozialistischer Zeit etabliert, auf offenen Flächen zum Industriegebiet hin finden sich punktuell mehrgeschoßige Büro- und Wohnbauten und entlang des kleinen Flusslaufs eine informelle Roma-Siedlung. Die daran an-schließende weitläufige Fläche des Talbodens wird von einer Mülldeponie eingenommen. Die räumlichen Grenzlinien sind als Ergebnis dieser Entwicklungsdynamiken wenig definiert, wodurch die räumliche Einheit schwer greifbar wird.
Dennoch verdichten sich die Attribute zu einem charakterisierenden Bild: Die landschaftlichen Trägerstrukturen des Flusslaufs und der Flussterrasse bilden einen dauerhaften strukturellen Rahmen. Die Bedeutung der dazwischenliegenden Flächen dagegen verweist auf wechselnde, fluktuierende Zusammenhänge: leerstehende Fabrikshallen, überwucherte Erschließungswege, weite, ungenutzte Wiesenflächen und eine illegale Siedlung. Eine Mischung an manifesten und ephemeren Strukturen und Nutzungen produziert ein fragiles Gewebe aus heterogenen Räumen, Funktionen und Qualitäten, das sich in ständigem Wandel befindet. Die Pufferzone definiert sich in diesen Qualitäten und stellt dabei nicht nur einen räumlich-funktionellen Rand, sondern ebenso einen sozialen Grenzraum dar.
Die innere Peripherie
Der Boulevard General Skobelev bildet einen Teil der Ringstraße von Sofia, die nach Wiener Vorbild angelegt wurde (Doytchinov/Gantchev: 2001). Die radialen Straßen sind darin bewusst als Querachsen zum Ring angelegt und bilden mit repräsentativen Stadtplätzen eine planmäßige Raumfolge. Die Radialstraße Boulevard General Totleben quert beim Platz des russischen Denkmals (Pl. Ruski pametnik) in südwestlicher Richtung den Ring. Der weitere Verlauf der Ringstraße in nördlicher Richtung ist charakterisiert durch gewerblich genutzte Flächen und die dichte, mehr als zwanziggeschoßige Wohnbebauung der Zona 5-5. Dazwischen eröffnet sich unvermittelt ein vegetationsgeprägter Freiraum, dessen radiale Erstreckung wie eine Analogie zu den städtebaulichen Querachsen anmutet.
© Philipp RodeAllerdings stellt sich diese Achse nicht durch signifizierte Beginn- und Endpunkte oder inszenierte Blickbeziehungen dar, sondern durch das Vorhandensein einer Lücke. Unvermittelt erfährt der kontinuierlich bebaute und inszenierte Stadtraum eine Unterbrechung, eine Zäsur. Es eröffnet sich ein Fernblick auf die Rückseiten der Wohngebiete, der durch einen Geländesprung noch verstärkt wird. Der Blick schweift über Gehölzstrukturen, kürzlich planierte Flächen, die von meterhoher annueller Spontanvegetation überwachsen werden, ungenutzte Grundstücke, deren Bewuchs mehrjährig ist. Direkt am Ring hat sich ein Autohändler die verkehrsgünstige Lage zunutze gemacht und betreibt einen flächengreifenden Parkplatz.
Die Grünachse gliedert sich bei näherer Betrachtung in unterschiedliche Teilräume, die die historische Entwicklung und Nutzung reflektieren: Entlang des Geländesprungs ziehen sich die Reste einer Eisenbahntrasse, die das Gebiet infrastrukturell erschlossen hat und auf eine frühere industrielle Nutzung verweist. Dieser infrastrukturelle Korridor erklärt gemeinsam mit der landschaftlichen Trägerstruktur der Topografie die axiale Erstreckung. Überwuchert von zehn bis 15-jährigen Bäumen und Sträuchern sind die ruinenhaften Reste der industriellen Nutzung an die ehemalige Bahntrasse angelagert: ein ummauerter Komplex mit Verwaltungsgebäuden, Produktions- und Lagerhallen, Betonsilos zum Verladen von Gütern sowie ein umzäunter Betonrohbau, der nicht über das erste Geschoß hinausgekommen ist. Überall finden sich Trampelpfade, Löcher in den Abgrenzungen, Hinterlassenschaften von temporären und kontinuierlichen Nutzungen. Die Ensembles muten fremdartig an, sie sind ihrem früheren Bedeutungszusammenhang entrissen und verweigern sich der Eingliederung in den homogenen Stadtkörper.
© Philipp RodeDiese Komplexe sind eingebettet in ein System von Freiräumen unterschiedlicher Typologie: Angrenzend an die Wohnbebauung der Zona 5-5 bietet eine Kollage aus improvisierten Imbiss- und Getränkebuden, weiten asphaltierten Spielflächen mit lückiger Drahtzaunumgrenzung und einer rostigen Halfpipe einen Erholungsraum postsozialistischer Prägung an. Angrenzend an das verfallende Industriegebiet befindet sich ein Sportkomplex, dessen sozialistischer Glanz durch die Spontanvegetation schimmert: eine Aschelaufbahn – nun von Joggern der Wohngebiete genutzt, überwucherte Basketballplätze – von den Jugendlichen als Treffpunkte und Abhängzonen verwendet, ein verwaldeter Fußballplatz. Ein informelles, verschlungenes Wegenetz verbindet die formalisierten mit den funktionsoffenen Räumen, die dadurch in ihrer Heterogenität und Divergenz zusammengehalten werden. Das Erkunden der Grünachse gleicht einer Odysee durch die Freiraumentwicklung und -aneignung im Postsozialismus: Vom Alltag der Wohnsiedlung zu den verbotenen Zonen der Industrieruinen, vom Dickicht der Obdachlosen zu den offenen, von Annuellen bewachsenen Flächen der streunenden Hunde und Spazierenden, von der extensiven Sportnutzung zum Infrastrukturkorridor, der in die stadtauswärtigen Industriegebiete führt. Die früheren Nutzungen sind verborgen, überwachsen, designifiziert. Die aktuelle Bedeutung baut auf Improvisation, Prekarität und Kurzlebigkeit.
Der Verkehrskrake
Im Städtebau des Sozialismus hat die Verkehrsplanung einen besonderen Stellenwert eingenommen: zum einen wurden die Magistralen und Boulevards als die städtebaulichen Leitachsen der neuen Zeit verstanden, die Blickbeziehungen zu den repräsentativen Machtzentren des Sozialismus ermöglichten. Zum anderen wurden die Straßen in der modernistischen Interpretation als Arterien bezeichnet, die die neu entstandenen Wohn- und Industriegebiete verbinden und miteinander in Austausch treten lassen sollten. Entsprechend großformatig stellen sich die Verkehrsbauwerke dar – materielle Abbilder der Kraft des Sozialismus, der sich über die historischen Baustrukturen und natürlichen Landschaftszusammenhänge hinwegsetzt. Der Norden von Sofia – nördlich des Hauptbahnhofes und der zugehörigen Schienenstränge – wurde nach dem Zweiten Weltkrieg urbanisiert. Weitläufige Industriegebiete und Plattenbausiedlungen kennzeichnen dieses Stadtgebiet, das im Vergleich zum Süden der Stadt als benachteiligt gilt. An der Nahtstelle zwischen dem Stadtkörper aus der Vorkriegszeit und den sozialistischen Entwicklungsmustern überspannt ein Verkehrsknoten die Gleisanlagen und die landschaftlichen Resträume. Wie ein Krake streckt der Knoten seine Arme in die verschiedenen Teile der Stadt und der Peripherie aus. Eine Abfolge aus Brücken, Dämmen und Unterführungen bildet das transitorische Zentrum und produziert über mehrere Ebenen eine Gemengelage von Räumen, die durch landschaftliche Relikte, technoide Überformung und lokalen Bezug geprägt sind.
Das landschaftliche Relief ist von der Lage in der Ebene von Sofia geprägt und von einem Bachlauf charakterisiert, dessen Quelle im südlich gelegenen Vitosha-Gebirge entspringt. Dieser Landschaftsraum ist vom Relief der Verkehrsdämme überformt und in Teilräume fragmentiert, die im Bereich des Bachlaufs einen direkten Zusammenhang zu ihrem Ausgangszustand besitzen. Die verschiedenen Niveaus der Infrastrukturträger verschränken sich und bilden inselartige Räume, die vom landschaftlichen als auch vom umgebenden urbanen Bezug isoliert sind. Die übergeordneten Straßen bilden dabei die oberste Ebene, die durch räumliche Weite und Übersicht gekennzeichnet ist. Darunter – meist auf dem Niveau des gewachsenen Bodens – befinden sich die Gleisanlagen, die in Teilbereichen erhöht auf Dämmen geführt werden und durch ihre Linearität charakterisiert sind. Teilweise im Untergrund ist der Straßenbahnverkehr und der fußläufige Verkehr organisiert, räumliche Enge und sensorische Dichte sind Attribute dieser Ebene. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen erfolgt auf formaler Ebene nur partiell. Das informelle Wegenetz allerdings integriert alle Teilräume des Knotens, nutzt die formalen Trassen als Zubringer und führt zu den unterschiedlichen Teilräumen und ihren jeweiligen sozialen Nutzungen. Die landschaftlichen Resträume sind von den Eisen- und Straßenbahntrassen erschlossen und bestehen aus unübersichtlichen Raumfolgen, die durch Vegetation strukturiert sind. Lagerplätze, Zelte, Feuerstellen weisen auf die Nutzung als alltäglicher Lebensraum hin. Die von den Gleiskörpern produzierten Räume sind topografisch interessant und bilden schwer zugängliche Orte, die teilweise dicht von trockenliebender Vegetation überwachsen sind. Die Wege sind an der Querung bzw. an der Linearität der Schienenstränge orientiert. An der Kreuzungsstelle der Straßenbahnen befindet sich das eigentliche Zentrum des Knotens: Umsteigepunkt und Aufenthaltsort, der in Bezug zum umgebenden Stadtraum steht.
Die räumliche Fragmentierung durch die Verkehrsbauten produziert eine Vielfalt an Teilräumen, deren Attribute und Qualitäten von naturnah bis lebensfeindlich reichen. In der räumlichen Schichtung des Knotens erschließen sich voneinander isolierte Bezugssysteme, die konträr zum ortlosen Charakter der Verkehrsfunktion stehen. Bei aller Heterogenität sind die einzelnen Räume, Funktionen und Nutzungen engmaschig miteinander verflochten. Die Fragmentierung wird in dieser Interpretation als Qualität begriffen, die Verschiedenartigkeit ermöglicht.
Der Negativraum als Raum der Krise?
Die Gruppe Stalker interpretiert den Anteil des Negativraums an der Gesamtfläche einer Stadt als einen Indikator für ihren Reichtum. Indem der Negativraum als Teil der Stadtstruktur angesehen wird, lässt sich aus seinem Vorhandensein auf die Konstitution der Stadt schließen. Eine ähnliche Schlussfolgerung lässt sich aus einer regulationsgeleiteten Sicht auf den städtischen Raum ableiten: der Negativraum kann darin als ein Ausdruck formativer Krisenhaftigkeit verstanden werden, während der Positivraum mit der Vorstellung einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung gekoppelt ist.
© Philipp RodeDer Negativraum von Sofia ist zweifellos von den gesellschaftsstrukturellen Umbrüchen des Postsozialismus geprägt und spiegelt in seiner Nutzung die wachsende soziale Stratifizierung wider. In dieser Sichtweise kann der Negativraum als unerwünschtes Produkt gesehen werden, das es zu beseitigen gilt. Aus landschaftsarchitektonischer Perspektive bildet der Negativraum allerdings eine wichtige Quelle zur Entwicklung eines umfassenden Landschaftsbegriffs. Durch Darstellung seiner Qualitäten und Funktionen eröffnet sich die Möglichkeit, das Leitbild des homogenen Stadtraums zu differenzieren. Der Negativraum zeichnet sich durch Heterogenität und ständige Veränderung aus, die den prozessualen Charakter von Stadtlandschaften beleuchten. Seine alltägliche Neuinterpretation bietet das Potenzial, die Prozesse der Designifizierung, der Ortlosigkeit und der Divergenz als ortstbestimmende Attribute zu lesen. Die Interaktion zwischen der ephemeren Landschaft und den dauerhaften landschaftlichen Trägerstrukturen bildet in diesem Zusammenhang das Spannungsfeld, in dem sich die landschaftsarchitektonische Bearbeitung bewegt. Der Negativraum von Sofia stellt dafür ein geeignetes Forschungsobjekt dar.
Philipp Rode ist Forschungsassistent am Institut für Landschaftsarchitektur der Universität für Bodenkultur Wien.
Philipp Rode
Becker, Joachim (2002): Akkumulation, Regulation, Territorium. Zur kritischen Rekonstruktion der französischen Regulationstheorie. Marburg: Metropolit.
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Welsch, Wolfgang (1990): Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam. <www.osservatorionomade.net>