»Die Reise geht weiter«
Besprechung von »Europäische Meridiane - Neue Musik Territorien« von Susanna Niedermayr und Christian ScheibSusanna Niedermayr & Christian Scheib
Europäische Meridiane - Neue Musik Territorien.
Reportagen aus Ländern im Umbruch
European Meridians - New Music Territories.
Reports from Changing Countries
Übersetzung: Friederike Kulcsar, Kimi Lum (Tschechien),
Saarbrücken: PFAU-Verlag, 2003
2 Bände inklusive CD, EUR 30
Auch in Band 2 ihrer Reportagen über Länder im Umbruch fokussieren Susanna Niedermayr und Christian Scheib die aktuellen Musikszenen in Litauen, Rumänien, Serbien-Montenegro, Estland, Lettland und Tschechien schlaglichtartig durch fundierte Recherchen und anekdotenhafte Episoden. Schlüssig lässt sich nachvollziehen, wie aus politischen Umstrukturierungen und aus Verschiebungen gesellschaftlicher Bezugssysteme Veränderungen der kulturellen Produktionsbedingungen resultieren. Die Publikation kann so als Aufruf an die Kunst- und Kulturschaffenden betrachtet werden, Strukturen zu bilden, die einen regen Austausch forcieren. Eine wesentliche Begleiterscheinung für die Verbesserung der Produktionsbedingungen ist, dass keine Scheu vor genre- und szeneübergreifenden Kooperationen existiert.
So lud die Zagreber Musikbiennale das innovative Zagreber Multimediainstitut mama ein, ein Konferenzprogramm samt Konzertserie zu programmieren, die sich mit dem Thema Musical Constellations in the Digital Age befasste. Wie sehr derartige Kooperationen als Initialzündung funktionieren, zeigt die weitere Kooperation mit der Belgrader Musikplattform CHINCH, die wiederum gemeinsam mit mama das Internet- Musimagazin Explicit Music gründete. Das Networking zwischen der kreativen Community funktioniert grenzüberschreitend. Interessanterweise versucht man nun, nach den politischen Umstrukturierungen auf kultureller Ebene eine gemeinsame Basis zu finden, um international erfolgreich agieren zu können. Während unter Tito durch den Druck auf die KünstlerInnen eine Art Gehirnwäsche betrieben wurde, zelebrierte Milosevic mit seinem Turbofolk eine Diktatur des schlechten Geschmacks. Während des Milosevic Regimes spielte der Belgrader Radiosender B92 durch seine Kontakte zu Independent Labels im Ausland eine wesentliche Rolle und funktionierte als Sprachrohr von Protesten und Demonstrationen gegen das Milosevic-Regime. Im Umfeld von B92 entstand das Ring Ring Festival und dem tribina kompozitora, der internal review of composers ein interessantes Spannungsfeld zwischen alternativer und experimenteller Musik.
Während in Band 1 noch nachdrücklich bedauert wurde, dass sich die Musikszene der bereisten Länder vorwiegend in Männerhand befindet, wird in Band 2 nun ein optimistischeres Bild der Rollenverteilung skizziert. Fündig wurde man vorwiegend in Bukarest, wo durch das Engagement von Myriam Marbé mehrere Generationen von Komponistinnen ausgebildet wurden, die mittlerweile im Westen erfolgreich sind. Dennoch zeichnet sich auch in Rumänien durch das Diktat des Mainstreams zunehmend ein undifferenzierter Konsum gegenüber der Kultur- und Kunstproduktion ab, der bewirkt, dass Subkulturen von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Dieses drastische Szenario zeichnet die Komponistin Maia Ciobanu, die wiederum selbst zur Gruppe jener KomponistInnen zählt, deren großes Vorbild Myriam Marbé ist, die aus der goldenen Generation der rumänischen KomponistInnen hervorging und selbst Frauen wie Violeta Dinescu, Doina Rotaru voll unterstützte.
Auch wenn die Betonung der AutorInnen immer darauf liegt, im Hier und Jetzt zu agieren, bilden historische Exkurse ein Spektrum von politischen Hintergrundinformationen. Charakteristisch für die Publikation ist das Engagement, durch Interviews den direkt in die Szene involvierten MusikerInnen, KomponistInnen und Kulturschaffenden eine Plattform zu bieten. Die Betonung liegt auch in Band 2 auf dem Genius Loci und somit darauf, wie jede Region aus den Aktivitäten des politischen Widerstandes nun wieder ihr eigenständiges Potenzial voll aktiviert. Markant für die Musikszene in Tschechien ist deren Vergangenheit in der Rockmusik, die in die späten 1960er-Jahre zurückreicht und mit der Gruppe Plastik People of Universe Kultcharakter annimmt.
Susanna Niedermayr & Christian Scheib
Europäische Meridiane - Neue Musik Territorien.
Reportagen aus Ländern im Umbruch
European Meridians - New Music Territories.
Reports from Changing Countries
Übersetzung: Friederike Kulcsar, Kimi Lum (Tschechien),
Saarbrücken: PFAU-Verlag, 2003
2 Bände inklusive CD, EUR 30
Ursula Maria Probst