Die Stadt in der Revolte revisited
In einem Artikel zur Kampagne Boats4People rückt Helmut Dietrich die Mainstream-Perspektive auf die Aufstände und Demonstrationen in Nordafrika seit 2011 ganz im Vorübergehen zurecht, indem er ihnen eine Geschichte verleiht: Ab den 1950er Jahren entzogen sich die nordafrikanischen Staaten durch nationale Befreiungsbewegungen der europäischen Kolonialherrschaft. Doch im Zuge der so genannten Schuldenkrise vollzogen sie auf Druck von IWF und Weltbank Strukturanpassungsprogramme, die vor allem zu Lasten der Landbevölkerung gingen und in deren Zusammenhang die Lebensmittelsubventionen gestrichen wurden. Das war, so Dietrich (2012), nicht nur »der Auslöser der Brotrevolten« in den 1980er Jahren, sondern diese stellten zugleich den Beginn eines »anhaltenden, so oft unterdrückten Kampfzyklus« dar. In den westlichen Ländern wurde dieser nicht wahrgenommen. Die Unterdrückung dieses Zyklus sozialer Kämpfe lässt sich nicht auf die repressiven Antworten von Seiten der Staatsapparate in Nordafrika verkürzen. Sie umfasst auch Grenzschutzabkommen mit der EU, extraterritoriale Abschiebelager und die militärische Abschottung der Mittelmeergrenze zum Schengen-Raum. Und Kampfzyklus bezeichnet nicht nur spontane Revolten und Aufstände, sondern versteht diese als Teil und Artikulationsform sozialer Kämpfe, deren Geschichte und Bezüge. Was aus der alltäglichen Perspektive der nordafrikanischen Länder von unten als anhaltender sozialer Konflikt artikuliert und praktiziert wird, findet seinen Widerpart von oben bzw. von außen (EU) in der Konstruktion einer gefährlichen Klasse, in Maßnahmen nationaler Aufstandsbekämpfung und transnationaler EU-Außengrenzsicherung.
Ellen Bareis ist Professorin für gesellschaftliche Ausschließung und Partizipation an der Hochschule Ludwigshafen. Ihre Schwerpunkte sind Alltag und soziale Kämpfe, die Produktion des Sozialen from below und Transformationen des Städtischen.