
Die Stadt in der Steppe
Besprechung von »Raw Models/Rohmodelle. Aktau_St.Petersburg_Hoyerswerda_Tapiola_Sofia« von Birgit SchliepsBirgit Schlieps
Raw Models / Rohmodelle - Aktau_St.Petersburg_ Hoyerswerda_Tapiola_Sofia
Frankfurt a. M.: Revolver, 2005
128 Seiten, 25 Euro.
Am Beginn war eine riesige Urangrube in der Tiefebene von Karagije. Um den Bodenschatz ausbeuten zu können, waren ArbeiterInnen notwendig und diese brauchten Unterkünfte. Das Ziel war jedoch nicht, ein paar Baracken aufzustellen, sondern eine Stadt zu bauen. Anfangs als »geheime Stadt« konzipiert, wurde Schewtschenko (heute Aktau) mit der ersten Entwicklungsstufe 1963 zu einer offiziellen Stadt.
Geplant als lineare, funktionalistische Industriestadt in der Tradition modernen Städtebaus mit drei Zonen: Arbeiten, Wohnen und einer Lagerzone dazwischen. Aufgeteilt in Mikrorayons zu je 8000 BewohnerInnen, für die jeweils ein eigenes Zentrum und eigene Infrastruktur vorgesehen war. 1982 war der Bau der Stadt abgeschlossen, wenn auch nicht alle Mikrorayons fertig gestellt wurden. Aktau liegt in einer Steppe am Kaspischen Meer, gebaut wurde es von Soldaten und Gefangenen. Trinkwasser wird aus einer atomstrombetriebenen, riesigen Meeresentsalzungsanlage gewonnen. In den ersten Jahrzehnten wurde die Stadt vorrangig von russischen WissenschaftlerInnen, IngenieurInnen und FacharbeiterInnen bewohnt, die einen Lebensstandard genossen, der für sowjetische Maßstäbe eher unüblich hoch war. Schewtschenko bot seinen BewohnerInnen ein reichhaltiges kulturelles Angebot und versuchte durch üppige Vegetation vergessen zu lassen, dass die Stadt in einer fast vegetationslosen Steppe liegt und die nächste Ansiedlung hunderte Kilometer weit weg ist. Trotz der scheinbar unwirtlichen Bedingungen, denen die Stadt ausgesetzt ist (die Temperaturen schwanken zwischen –35 Grad im Winter und 45 Grad im Sommer), übt sie auf ihre BewohnerInnen eine Faszination aus oder hat das zumindest früher getan, wie aus den Interviews im Buch hervorgeht.
1984 begann man einen Erweiterungsplan für eine Stadt mit 300.000 statt 100.000 EinwohnerInnen zu entwickeln. Mit der einsetzenden Perestrojka und dem darauf folgenden Ende der Sowjetunion kam jedoch der Abstieg von Aktau - von 300.000 EinwohnerInnen war keine Rede mehr. Die, die blieben, wurden arbeitslos und speziell die russischen BewohnerInnen zogen weg. Die Bevölkerungsstruktur veränderte sich stark, anstelle der RussInnen kamen vor allem KasachInnen aus der Mongolei und dem Iran in die Stadt. Mit den Erdölfunden im Kaspischen Meer scheint nun ein neuer Aufschwung in Gang zu kommen, der sich durch neuerliche Bautätigkeit, einem Ansteigen der Mieten und auch mehr Verkehr bemerkbar macht. Die Bautätigkeit ist nun jedoch keineswegs mehr zentral gesteuert: Wer Geld hat, baut mehr oder weniger wie er/sie will, sei es eher bayrisch (scheint sehr beliebt zu sein) oder doch lieber im Stil brasilianischer Soaps, und kümmert sich meist nicht um die Struktur der Stadt.
Das Buch von Birgit Schlieps besteht einerseits aus nach Stichworten gegliederten Gesprächen mit Menschen, die in Aktau leb(t)en und arbeite(t)n, und andererseits aus wunderschön fotografierten, ganzseitigen Bildern. Darüber hinaus beinhaltet es ein Gespräch mit einem der Stadtplaner von Hoyerswerda, das eine ähnliche Entstehungsgeschichte wie Schewtschenko hat. Weiters finden sich darin Gespräche mit BewohnerInnen der finnischen »Waldstadt« Tapiola und mit zwei bulgarischen ArchitektInnen über Sofia. Warum im ganzen Buch nicht erwähnt wird, dass Birgit Schlieps die erste Reise nach Aktau nicht alleine, sondern als Teil der Gruppe SARS gemacht hat, die auch in der Bibliographie nirgends erwähnt wird, ist ein wenig eigenartig, ändert aber nichts daran, dass hier ein sehr schön gemachtes, lesenswertes Buch vorliegt. Wer noch mehr über Aktau/Schewtschenko erfahren will, dem/der sei der Artikel Aktau – Schewtschenko ... und diese Stadt war eine großartige Idee. Nichts gab es hier am Anfang, es war eine einzige Wüste von SARS für die Zeitschrift UmBau (Heft 18; siehe www.oegfa.at) ans Herz gelegt.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.