Judith Haslöwer

Judith Haslöwer studiert Kulturwissenschaften und Urbanistik.


Die Stadt dient aufgrund ihrer hohen Dichte seit jeher als Brennglas sozialer Missstände. So überrascht es nicht, dass die Corona-Pandemie imstande war, Motive wie Gemeinschaft und Zusammenhalt wieder mit neuer Bedeutung zu füllen. »Zusammen durch die Corona-Krise« hieß es auf Plakaten und Broschüren, die von der Stadt Wien verteilt wurden. Doch was bleibt postcorona von diesem ›Zusammen‹? Was teilen wir eigentlich, abseits der längst etablierten Sharing-Economy? Die auf der gleichnamigen Veranstaltungsreihe basierende Online-Publikation Gemeine Stadt hat es sich zum Ziel gesetzt, das uns Gemeine, das Banale, das Zusammen im Stadtleben zu bezeichnen und zu befähigen. Gemeine Stadt entstand im Auftrag der Berliner Landeszentrale für politische Bildung mit Unterstützung von MetroZones und Pepperlint. Die Veranstaltungsreihe wurde von Sabrina Dittus, Stephan Lanz und Kathrin Wildner konzipiert und kuratiert. Trotz des Fokus auf die deutsche Hauptstadt, lassen sich die Inhalte und Themen der Publikation problemlos auf andere Städte übersetzen.
        Die Webseite ist als ständig anwachsende Online-Publikation zu verstehen, bei der Vertreter:innen der Forschung und Kunst eingeladen sind, eine Vielfalt von Beiträgen zu produzieren. Die Veranstaltungsreihe umfasste performative Übungen, Gespräche und theoretische Seminare. Entlang der inhaltlichen Schwerpunkte Straße, Versammlung, Eigentum, Umweltgerechtigkeit, Kollektive und Daseinsfürsorge trafen darin interdisziplinäre Expert:innen aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Aktivismus aufeinander.
        Als Ausgangspunkt für Gemeine Stadt fungiert ein 2007 von Sabrina Dittus geführtes Interview mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy. Hierin erörtert Nancy, wie wir mit dem real-existierenden Kommunismus das Gemeinsame verloren haben. Auf das Gemeine, Banale, das Alltägliche, so argumentiert er, müssen wir zurückkommen, um zu verstehen, wie wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede organisieren können. Ist das Spaltende womöglich das, was uns gemein ist?         Gemeine Stadt gliedert sich – trotz digitalem Dasein – in Kapitel und verspricht damit einen leichten Einstieg. Noch leichter wäre die Navigation wohl mit einem zusätzlichen Verzeichnis aller Beiträge. Eine Kommentarspalte könnte die Webseite um eine Dimension erweitern und Austausch ermöglichen. Dennoch bringt Gemeine Stadt durch die breite Medienvielfalt und ästhetische Gestaltung viele Anregungen. Einige Beitragsempfehlungen, um Orientierung zu schaffen:
        In einem Audioessay geht Jasmina Al-Qaisi der Frage nach, wie wir uns umeinander kümmern und welche Rolle Daseinsfürsorge in einer funktionierenden Gemeinschaft einnimmt. Sich zu sorgen, zu kümmern, sich verantwortlich zu fühlen 
und besorgt zu sein, ist Grundlage für ein neues WIR. Al-Qaisi führt multilinguale Gespräche über die Ent- und Aufwertung von Care-Arbeit, ihre Abwesenheit und strukturelle Dilemmata, die sich aus der Neuzentrierung einer Gemeinschaft entwickeln.         Spannend sind die Beiträge des Künstlers Marcos Garcia Pérez, in denen Übungen zur Gruppenbildung sowie zum gemeinschaftlichen Erkenntnisgewinn dokumentiert und entworfen werden. Die Zeichnungen, diskursiv und kollektiv, geben Einblicke in die Workshops, auf denen die Publikation basiert. Zugleich erkunden die Beiträge Zeichnungen als Tool für gemeinschaftliches Arbeiten und um Beziehungssysteme sicht- und handhabbar zu machen. Garcia Pérez spricht dem Konzept des Spiels und spielerischen Arbeitens große Bedeutung zu. So viel, dass Leser:innen sich befähigt fühlen können, die Schritt-für-Schritt-Anleitung in das nächste Plenum zu tragen.
        Zuletzt soll das Interview mit Ellen Gomes, einem Mitglied des Black Earth Kollektivs, erwähnt werden. Das Black Earth Kollektiv gründete sich aus einem Netzwerk, das von Schwarzen Studierenden innerhalb der Klimabewegung ins Leben gerufen wurde und es sich zur Aufgabe macht, über Umwelt-Intersektionalität und globale Klimagerechtigkeit aufzuklären. Das von Sabrina Dittus geführte Interview eröffnet den Lesenden einen Blick auf das durch alle Demographien Verbindende im Kampf gegen die Klimakrise. Thematisiert wird auch der Status quo der Berliner Klimafitness aus BIPoC-Perspektive. Der Terminus Umweltrassismus gewinnt an Plastizität und drängt zum Einbezug verschiedener Meinungs- und Handlungsträger:innen, allen voran aber Betroffenen.
        Gemeine Stadt präsentiert sich aufgrund der vielfältigen medialen und inhaltlichen Zugänge zugleich als Handbuch, Erfahrungsbericht, Dokumentation, Interviewreihe und Manifest. Womöglich die genau richtige Weise, sich der großen Frage nach der Gemeinschaft und dem Zusammen in der Stadtgesellschaft anzunähern. Zum Browsen, mit und ohne Vorwissen zur Thematik, eignet sich Gemeine Stadt für Menschen, die bereits von der Notwendigkeit des Gemeinsamen überzeugt sind und Interesse an der eigenen Rolle in dessen Entwicklung haben.


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