Die Terranauten
Besprechung von »Die Terranauten« von T.C. BoyleDas Schaffen des US-amerikanischen Autors T.C. Boyle lässt sich in seiner Gesamtheit auch unter der thematischen Perspektivierung menschlicher Bedingungen in Extremsituationen lesen und verstehen. Prinzipien des Ein- und Ausschließens, seien sie nun gesamtgesellschaftlich, räumlich oder weltanschaulich, kennzeichnen sein Abarbeiten an ökologisch-politischen Systemen. Seine aktuellen feinnervigen Durchleuchtungen, verstärkt von phantastischen Elementen, kommen zeitlich durchaus passend: Einerseits bieten aktuelle Spielfilme wie The Girl with All the Gifts oder Mini-Serien wie Ascension Einblicke in menschliches Verhalten unter neuen, freundlich gesagt, verschärften Lebensbedingungen, andererseits jährt sich Buckminster Fullers Gestaltung des Pavillons der USA im Rahmen der Expo 67 zum 50. Mal. Seine geodätische Kuppel begeisterte damals Vertreter der Gegenkultur als auch des Militärs, sie darf als Entwurf eines geschlossenen Ökosystems als Grundstein für eine Vielzahl von (Lebens-)Experimenten stehen. Auch Boyle, der wiederholt historische Ereignisse mit den Mitteln der Literatur neu verhandelt hat, setzt an diesem Punkt an und macht die realen Biosphäre 2-Versuche zur Grundlage, ja zum Trampolin seiner Terranauten: Für zwei Jahre wird eine Crew, bestehend aus vier Frauen und vier Männern eingeschlossen. Sie sind Teil einer Reihe von Langzeitstudien – und dabei nicht nur Pioniere des Weltalls sondern vor allem auch Studienobjekt.[1]: Drei Stimmen ruft der Schriftsteller auf, um die zweite einer Reihe von Vorbereitungen für die Besiedlung des Mars (und wohl auch anderer Planeten) nachträglich Bericht ablegen zu lassen. Im Perspektivenwechsel zwischen der mitunter neidisch beobachtenden Mission Control und zwei Team-mitgliedern gelangt Boyle zu einer fiktionalen Berichtigung der sogenannten Tatsachen. Seine Anlehnung an (gescheiterte) Experimente zur Vorbereitung generationsübergreifender Raumfahrtprojekte wird zu einer eigenwilligen, satirischen Erfolgsgeschichte einer neuen Art von Siedlern. Die umzusetzende Mission, der bereits ein Misserfolg vorangegangen war, droht immer wieder fehlzuschlagen – und als Dawn von ihrem Kollegen Vaj schwanger wird und sich entschließt, das Kind auszutragen, scheint die Situation endgültig zu kippen. Es ist dabei aber nur konsequent, dass Eve, die Tochter der beiden Terranauten, zuletzt doch im Menschenvivarium geboren wird. Ökosystem und Teamdynamiken werden bei Boyle miteinander verkoppelt; auf das Wunder, das einen Systemausfall zu Beginn der zweijährigen Mission aufhebt, folgt mit dieser Geburt die eigenwillige Neuausgestaltung einer paradiesischen Kernfamilie. Die Selbstversorger unter Glas stehen dabei nicht nur unter strenger Beobachtung, sondern geben, wenig zufällig, auch ein breitenwirksames Publikumsspektakel ab. Gesellschaft reproduziert sich innerhalb von Boyles Ecosphere 2 mit all seinen schönen und weniger erfreulichen Seiten, den kleinen und großen Geheimnissen und dem permanenten Bemühen »nicht peinlich berührt zu sein«. Als sich Dawn schließlich entscheidet mit ihrer Tochter nach Abschluss ihrer Missionsphase in der Biosphäre zu verbleiben, wird aus der marketingtauglichen Verwertung des Ereignisses einmal mehr eine existenzielle Frage. Zählte die mit einem Ablaufdatum versehene Wirklichkeit zuerst nur als Simulation, wird sie nun zur neuen Wirklichkeit, zum abgeschotteten Kreislauf der Selbstversorger, die sich der gesuchten frontier nun ganz uneingeschränkt stellen. T.C. Boyle erliegt in Die Terranauten streckenweise den Strategien, die er ausstellt und kritisiert – er erweist sich aber auch einmal mehr als eigenwilliger, lesenswerter Freund der Erde.
Zum Projekt Biosphere 2 siehe auch den Artikel We Have Never Been Earth von Ralo Mayer in dérive 51, 2/2013. ↩︎
Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Literaturwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.