Die Urbanität der Zwischenstadt
Besprechung von »100% Stadt. Der Abschied vom Nicht-Städtischen« von Ernst Hubeli, Harald Saiko und Kai VöcklerErnst Hubeli, Harald Saiko, Kai Vöckler
(Red.)
100% Stadt
Der Abschied vom Nicht-Städtischen
Graz: HDA, 2003
256 S., EUR 19,90
Sowohl Stadtland Schweiz wie 100% Stadt geht es darum, den Begriff der Urbanität zu hinterfragen, die gebaute Realität der Peripherie ernst zu nehmen und ihren Qualitäten nachzuspüren. Während das erste Buch das Gestalthafte der formlos scheinenden Zwischenstadt sucht und die Frage nach der Optimierung dieser flächenverbrauchenden Besiedlungsform stellt, besteht der gemeinsame Nenner des Sammelbandes 100% Stadt darin, sie in ihrer Qualität und als Stadt zu bestätigen. Das Urbane kann dann als das definiert werden, was sich einer Verwaltung entzieht – ohne deshalb freilich ohne sie auszukommen. Dazu bedarf es nicht notwendigerweise höchster baulicher Dichte, wie es MVRDV in Stadtland Schweiz mit ihren Szenarien suggerieren, die das Unstädtische par excellence vorführen. Verschiedene Definitionen von Urbanität sind hinlänglich bekannt, man kann aber offenbar nicht oft genug betonen, dass es im Kern um Funktionenmischung und soziale Dichte geht, nicht um hohe Geschoßflächenzahlen. Dabei spielt auch die »Körnigkeit« (Sieverts) dieser Mischung eine wesentliche Rolle, also die Parzellengröße, Kleinteiligkeit und Nähe des Verschiedenen, mit der sich das Städtische von einem Inselurbanismus unterscheidet, der homogene Siedlungseinheiten und Konsumkomplexe aneinanderreiht. Walter Siebel findet in 100% Stadt zu einer weiteren sehr interessanten Definition von Stadt, die auf ihrer Historizität beruht, auf dem Gleichzeitigen des Ungleichzeitigen. Man könnte auch von einem Auseinanderfallen von vorgesehener und praktizierter Nutzung sprechen – wie es jedem funktionalistischen Verständnis von Architektur widerstrebt –, von Stadt als Prozess des permanenten Umbaus. Kristallisationspunkte, an denen eine solche urbane Transformationsarbeit im Moment vornehmlich stattfindet, sind brachliegende alte Industrieareale – vor allem in der Phase ihrer Zwischennutzung, wie sie in diesem Heft thematisiert wird.
Die Redakteure des Bandes bestimmen vor diesem Hintergrund die Anforderungen an eine neue städtische Architektur und damit gleichsam die Form des Formlosen: »Sie ist weder ästhetisch bevormundend, lebenspädagogisch aufgeladen, noch funktionell vorbestimmt und trotzt gestalterischen Kraftakten; sie bietet Möglichkeitsräume an. (...) Insofern wird die Form zu einer Überform: Sie ist komplett genug für den Gebrauch und unvollständig genug für die subjektive Aneignung und komplex genug, um antizipationsfähig zu sein. (...) Wer hingegen planerische und gestalterische Überschüsse produziert, so die Lektion, hat das Gelände verfehlt, weil er den architektonischen und urbanen Fluss verdickt.« (S. 11) Während damit die materialen Kriterien der architektonischen Objekte beschrieben sind, die die »urbane« Zwischenstadt bilden, beschäftigt sich Susanne Hauser mit deren Wahrnehmung – ihrer Ästhetik oder vielmehr »Anästhetik«. Zeichnet sich die alte Stadt durch eine gemeinsame bauliche Struktur und Sprache aus, die in hohem Maß bildfähig sind, also im Auge der BetrachterInnen leicht ein zusammenhängendes Bild entstehen lassen, dann stellt sich diese Wahrnehmungsleistung in der Peripherielandschaft nicht von selbst ein. Sie bedarf der Übung, die die Zwischenstadt lesen lehrt und über dieses mehr an Verstehen auch zu einem anderen – dichteren – Umgang mit ihr führen kann. Diese Reorganisation der Wahrnehmung könnte ihre Schulung in der Ästhetik der modernen Kunst finden, die im Stande ist, das Differente zusammenzudenken und daraus »eine« Stadt zu imaginieren. Diese neue Stadt, die gleichsam im Kopf entsteht, behält ein Merkmal der alten bei: ihre Flächigkeit; sie lässt sich nicht auseinanderdividieren in Inseln der Aufmerksamkeit.
Wenn Stadt auch vor allem eine Wahrnehmungs- und Handlungsleistung ist, dann geht es doch wesentlich um deren Interferenz mit baulichen Strukturen, die fördernd oder hemmend wirken können. Während die Sicht der Zwischenstadt als »Stadt« zwar eine umfassende Berechtigung hat – im Gegensatz etwa zu monofunktionalen Innenstädten, denen man diese Bezeichnung absprechen muss –, kann die Dehnung des Begriffs auch zu weit gehen. Zwischenstadt ist nicht gleich Zwischenstadt, die Umnutzung alter Industrieflächen, die neue räumliche und funktionale Gebilde entstehen lässt, unterscheidet sich deutlich von Einfamilienhausteppichen. Beides lässt sich zwar unter »Zwischenstadt« subsumieren, nicht jedoch unter »100% Stadt«, wie Harald Saiko dies unternimmt. Auch die Idee eines »öffentlichen Themenparks« ist interessant, bleibt aber fragwürdig. Alexa Waldow- Stahm beschreibt mit diesem Begriff die neuesten Anstrengungen der »Stadt« Wolfsburg, die besser als »Werkssiedlung« des VW-Konzerns zu bezeichnen ist, was die Autorin auch tut. Wolfsburg versucht, sich als Erlebnispark – als Autostadt – zu etablieren; diese Bemühungen werden nun auf die ganze Stadt ausgedehnt und sollen auch ihren BewohnerInnen zu Gute kommen.
Wer bei solchen public private partnerships den Kürzeren zieht, ist nicht von vornherein ausgemacht, ihre Öffentlichkeit bleibt am Prüfstand.
Auch wenn eine Umcodierung von Begriffen dem Denken das notwendige Spiel einräumt, muss dies letztlich zu einer Differenzierung von Begriffen führen; allem das Etikett »Stadt« zu verleihen, bringt wenig. Dazu bleibt noch zu sagen, dass die Aneignung von Begriffen, Texten und Städten durch ihre BewohnerInnen und LeserInnen zwar eine wichtige Sache ist, falsche Zitate und Textausweisungen aber auch nach dem »Tod des Autors« unzulässig scheinen: Michel Foucault hat einen Text mit dem Namen »Andere Räume« geschrieben, nicht aber »Die Stadt der Heterotopien«. Von Gilles Deleuze gibt es den Aufsatz »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, nicht aber »Postskriptum zur Kontrolle«. Und der letzte Halbsatz aus Foucaults Ordnung der Dinge lautet »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«; das kann man auf die These vom Tod des Autors beziehen, nicht aber so zitieren: »Der Autor verschwindet wie das Gesicht im Sand« (Hubeli, S. 64f). Soviel zu den »Lesarten des Popuären« – deren Autor übrigens John Fiske heißt, nicht Fiskes.
Ernst Hubeli, Harald Saiko, Kai Vöckler
(Red.)
100% Stadt
Der Abschied vom Nicht-Städtischen
Graz: HDA, 2003
256 S., EUR 19,90
Christa Kamleithner