Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


Die kreative Szene ist seit einigen Jahren nicht nur in ihrer Rolle als Symbolproduzentin und Bühne der Selbstdarstellung, sondern auch als Gegenstand der Beobachtung durch die Sozialwissenschaften und Stadtforschung im Gespräch, weil ihr Einfluss auf soziale städtische Strukturen in verschiedener Weise wirksam geworden ist. Dabei vermischen sich unterschiedliche Elemente der postmodernen Gesellschaft. Die Bezugnahme auf Kreativität und neuestes Wissen entspricht der gesellschaftlichen Forderung nach permanentem Wandel und den damit verbundenen oder erwarteten ökonomischen Benefits, die der Produktionsweise des Kapitalismus entsprechen. Damit einher geht aber auch eine Zurichtung und Modulierung des flexiblen Menschen, der sich durch äußerste Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten Verhältnisse auszeichnet und dessen Flexibilität Identitätsprobleme und gesellschaftliche Auswirkungen zeitigt, indem durch instabile Arbeitsstrukturen ebensolche soziale Strukturen hervorgebracht werden. Die kreative Szene charakterisiert aber auch ein entsprechender Lebensstil, der sich bekanntlich durch die Auswahl bestimmter urbaner settings, nämlich alter, außer Funktion stehender und daher billiger Industriegebäude in bestimmten Quartieren zeigt. Durch die Kraft ihrer Symbolproduktion gelingt ihr gewissermaßen der magische Akt einer Verwandlung und Wiederbelebung ganzer Stadtteile, deren ökonomische Erträge durch Aufwertung aber zumeist den InvestorInnen und der Immobilienbranche zugute kommen.

Vor diesem Hintergrund entwickelt Oliver Frey seine Analyse der – wie er sie bezeichnet – amalgamen Stadt und seine These der neuen Überlagerung der gesellschaftlichen Funktionen von Arbeit und Wohnen bzw. einer weitgehenden Aufhebung der geläufigen Funktionstrennungen und der damit verbundenen stark separierten Nutzungen der Stadt. Eine Kernthese dabei behauptet das Primat der Arbeitsstätte vor dem Wohnort, was durch die qualitative empirische Arbeit im Ansatz belegt wird. In der Tat verbringen die Kreativen der Studie das Gros des Tages, man ist geneigt zu sagen “ihres Lebens“, am Arbeitsplatz im Loft und erzeugen dort eine entsprechende soziale Sphäre der Kommunikation und des Austausches mit ähnlichen AkteurInnen des sozialen settings. Daraus resultiert eine wichtige Frage: Arbeiten und leben diese Leute nur im selben Stadtraum, oder nutzen sie diese Gemeinsamkeit auch zu übergreifenden Kooperationen? Aus der Beantwortung dieser Fragestellung resultiert die Thematik, die durch den Untertitel des Buches Orte, Netze, Milieus auf den Punkt gebracht wird.

Frey führte eine Reihe von „biographisch-narrativ orientierten Leitfadeninterviews“ mit 16 Personen aus dem kreativen Milieu Wiens, die zwei ausgewählte Arbeitsstätten, die Schokoladen- und die Schraubenfabrik als Lofts nutzen. In oft liebevoller Schilderung von biografischen Details entstehen plastische Bilder junger Selbstständiger, deren Berufsleben durch eine merkwürdige Oszillation zwischen temporären Erfolgen und prekären Phasen gekennzeichnet ist. Entscheidend für dieses Arbeitsmilieu sind auch der Werkstättencharakter, durch den das Loft charakterisiert wird, die künstlerische Atmosphäre und der unbürgerlich­e Charakter des Ortes. Diese spiegeln die temporären Lebensverhältnisse ihrer NutzerInnen wieder, vieles ist provisorisch, rein funktional, aber eben auf diese Weise die besondere Ästhetik des Flexiblen und Flüssigen abbildend. Entsprechend unscharf sind die sozialen Netzwerke, die sich durch ein hohes Maß an persönlicher Freiheit und gegenseitiger Toleranz, aber eben auch geringer Verbindlichkeit auszeichnen. Es gibt durchaus gemeinsame Freizeitaktivitäten, die Frequenz gemeinsamer Kaffeehäuser, Galerien und Museen und ein Sich-Begegnen auf den ständigen Festen und Veranstaltungen der Szene. Immerhin ist der Aufenthalt in diesen Feldern für viele neben den Freuden der Geselligkeit auch mit der Akquisition neuer Aufträge verbunden und kann somit gerechtfertigt werden. Der Ort ist das Zentrum des Netzwerks, das durch die AkteurInnen entwickelt wird und quasi auch die Summe der Aktionsräume der einzelnen darstellt. Er modelliert einen Übergang von der Arbeitsöffentlichkeit zu einer relativ gering ausgeprägten privaten Sphäre. Nachdem die meisten ProbandInnen eher ein Single-Dasein führen, kann das Gros der Energien in das soziale Netzwerk fließen, wo, wenn man so will – Frey verwendet gelegentlich diese Begriffe aus der Produktionslogik –, die „Ich“-Ressourcen mit den „Wir“-Ressourcen verbunden werden.

Abschließend mündet die Arbeit etwas überraschend in das Konzept der Aktanten von Bruno Latour ein, in dem Orten die Rolle eines Aktanten zugeschrieben wird. Latour schreibt bekanntlich, dass Objekte auch Aktanten sein können, indem sie es sind, die die Handlungen hervorrufen und das traditionelle idealistische Subjekt mit seiner vermeintlichen Ichstärke oder die Gesellschaft als die dominante Fraktion des Handelns damit schlecht ausschauen lassen. Wenn der Ort selbst zum Akteur eines sozialen Raumes wird, weil er hochgradige soziale Semantik inkorporiert, so ist er auch die Kraft, die Milieu begründend agiert und quasi die sozialen Fäden im Hintergrund zieht. Damit versteht man den Begriff der amalgamen Stadt besser: Es handelt sich um ein Gemenge oder sogar eine Verschmelzung von unterschiedlichsten Strukturen, vornehmlich von AkteurInnen und Orten, die gewissermaßen den gleichen ontologischen Status aufweisen. Konsequenterweise müsste Frey analog zu Latours Parlament der Dinge das Parlament der Orte ausrufen lassen, wo Orte wie Subjekte repräsentieren. Das macht er allerdings nicht, hier fehlt es noch an Entschlusskraft. Schließlich bilden sich die Stadt- und RaumplanerInnen in ihrem Innersten immer noch ein, die Herren der städtischen Dinge und damit auch der Orte zu sein, andernfalls müssten sie ja diesen die Planungsempfehlungen übertragen. Immerhin plädiert er für eine Zurücknahme der Rolle der Stadtplanung, um die Selbstentwicklung der Stadt ohne Zwang zu steuern und der sozialen und morphologischen Heterogenität Rechnung zu tragen.

Frey nimmt sich einer komplexen Materie mit großer Ambition an und liefert nebenbei auch eine schöne Beschreibung der Wiener Kreativszene und ihrer Orte. Darüber hinaus finden sich in seinem Buch zahlreiche Grafiken der Cluster von einzelnen Sparten der Creative Industries in Wien, die einen guten Überblick der stadträumlichen Situation geben. Wer mehr über den Zusammenhang von Stadtraum und Creative Industries wissen möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.


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