Ljubomir Bratić

Ljubomir Bratić lebt als Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist, Aktivist und Flüchtlingsbetreuer in Wien.


Vom Konzert der hegemonialen Sozialpartnerschaft, das in den vergangenen 50 Jahren zu hören war, hat sich Österreich zu einem überaus komplexen Gebilde von kultur- und politischen Kämpfen gewandelt. Österreich ist mittlerweile das Land - das einzige Land -, in dem alle unsere Probleme als MigrantInnen besprochen, entschieden und gegen unsere Interessen angewendet werden. Selbst diejenigen unter uns, die auf das Prinzip der Selbstorganisation setzen - die im Schatten der Öffentlichkeit immer stark waren -, müssen zugeben, dass es Bereiche gibt, in denen es ohne unsere Mitarbeit, ohne Beteiligung an den Institutionen dieser unterdrückerischen, aber unserer(!) Gesellschaft nicht weiter geht. Wir können ihnen, aber auch uns selbst, einen guten Dienst erweisen. Das Abseitsstehen, auch vierzig Jahre nachdem die Ersten von uns hierher gekommen sind, nachdem unsere Großeltern und langsam auch die Eltern in Pension gehen und hier bleiben, ist anachronistisch. Es ist auch unehrlich, uns selbst und dieser Gesellschaft gegenüber. Denn faktisch machen wir als fixer zehnprozentiger Bestandteil der österreichischen Bevölkerung via unserer Arbeit, die wir leisten, und den Steuern, die wir zahlen, überall mit. Wir finanzieren die Wohnungen, die wir nie beziehen werden, das Bundesheer, das an der Grenze wachsam unsere Verwandten zurückschiebt, die Polizei, in deren Gefängnisse innerhalb der letzten Monate drei von uns gestorben sind, usw., um nur einige dieser Institutionen zu nennen. Wir zahlen und haben nichts zu sagen. Wenn wir uns aber glaubwürdig zu Wort melden würden, jeden Tag ein wenig mehr reden und weniger verschweigen würden, wenn wir die politischen Räume, die uns - trotz Restriktion - zur Verfügung stehen, mehr ausnützen würden, könnten wir auch mitreden.
Was vielen MigrantInnen in diesem Zusammenhang zu schaffen macht, ist das Problem der Machtlosigkeit der WählerInnen. Diese Sorge darf nicht als unbegründet angesehen werden. Eine Beteiligung bringt oft leeres Engagement in die Sachen mit sich, die - wie es sich im Nachhinein zeigt, von vornherein entschieden sind. Zum anderen werden wir auch einige Abstriche von dem machen müssen, was sich oft als Traum erwiesen hat, z.B. die Rückkehr der ersten Generation. Es ist nicht anzunehmen, dass sich hier in der Praxis etwas ändern wird. Unsere Familien werden weiterhin fast zur Gänze hier bleiben, manche werden in Altersheimen (die auch für uns geöffnet gehören) enden müssen. Der Traum aber, die Sehnsucht, das Emotionale muss umdefiniert werden, unser Lebensmittelpunkt ist und bleibt das Land Ostarichi. Wir werden unsere wohlerworbenen Rechte vertreten und werden uns nicht mehr von den rassistischen Parteien als Manövrierpotential ausnützen lassen. Wir werden auch bei der Umgestaltung unserer Umgebung mitentscheiden müssen und werden über öffentliche Plätze genauso mitreden wie unser Nachbar. Auch bei den diversen zukünftigen Ausländervolksbegehren werden wir unsere Stimme erheben können.
Auf der anderen Seite wäre es von Österreich wahrscheinlich wenig klug, den Zugang zu Mitsprachemöglichkeiten zu blockieren, denn einen anderen Ausweg hat dieser Staat nicht. Auch wenn die Emotionen hoch gehen, wissen alle, dass es bestimmte Grenzen der Politik und des Unrechts gibt, die auch der machtbewussteste Politiker nicht überschreiten darf.
Die Zeit für unsere Mitbeteiligung ist reif. Heute, spätestens morgen, stehen sich die Sozialpartner als Feinde gegenüber, und wir werden unter ihnen unsere Freunde aussuchen müssen. Heute gibt es - neben den MigrantInnen in Österreich - nur in der Schweiz schlechtere Integrationsmöglichkeiten (laut einer Studie des Instituts für Höhere Studien). Dass Österreich weiterhin, trotz der Veränderung in der Hegemonie, die menschenfeindlichste Beziehung zu den MigrantInnen in Europa erhalten wird, ist wohl kaum realistisch. Auch die Alpenrepublik wird begreifen müssen, dass sie sich nicht neben die Welt stellen kann, aber trotzdem von dieser ernst genommen werden will. Wer heute auf eine Zukunft der Gerechtigkeit und Demokratie für alle BürgerInnen in Österreich bauen will - ob rassistisch oder nicht -, der muss dort ansetzen, wo der Schlüssel für diese Werte liegt: bei der Förderung der Mitbeteiligung aller BürgerInnen.


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