Wie die »documenta fifteen« neue Formen von Kunst und Zusammenleben eröffnet
Besprechung der documenta fifteendocumenta fifteen
Kassel
18. Juni – 25. September 2022
»Make friends not art«, lautete im Vorfeld der documenta einer der Slogans der
ruangrupa, der als indonesischem Künstler*innen-Kollektiv die künstlerische Leitung der documenta fifteen auf Einladung des international besetzten documenta-Beirates (Frances Morris, Amar Kanwar, Philippe Pirotte, Elvira Dynagani Ose, Ute Meta Bauer, Jochen Volz, Charles Esche, Gabi Ngcobo) übertragen wurde. Die Nominierung von ruangrupa (Iswanto Hartono, Reza Afisina, farid rakun, Ade Darmawan, Mirwan Andan, Ajeng Nurul Aini, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Julia Sarisetiati) mit der erstmals ein Künstler*innenkollektiv die Kurator*innenschaft übertragen wurde und mit welchem seit Okwui Enwezor nach Jahren wieder außereuropäische Kurator*innen zum Zug kamen, schürte die Erwartungen. Ruangrupa, die infolge der Liberalisierung Indonesiens nach dem Ende des autokratischen Regimes von Suharto im Jahr 2000 gegründet wurde, setzte sich seit Beginn ihrer Existenz für anti-hierarchische, demokratische Methoden ein und arbeitete mittels Ausstellungen, Festivals, Publikationen und Rundfunkstationen an der Entwicklung mangelnder professioneller Strukturen in der Kunst Indonesiens.
›Lumbung‹ ist für ruangruapa zentral für ihre kuratorische Praxis, die langfristig wirken soll und steht für Zusammenarbeit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Umverteilung der Ressourcen und Beseitigung von Ungleichheiten. Es sind nicht Themen, sondern sieben Basiswerte, welche Lumbung charakterisieren, nämlich lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration. Lumbung umfasst in seinem politischen Kern das Ineinanderwirken von Kultur und Ökonomien und bezeichnet ursprünglich die landwirtschaftliche Dorftradition und die Architektur von Reisscheunen, in welchen Bauern Überschüsse ihrer Ernte einlagerten. Ihre Lumbung-Praxis umfasst drei Netzwerke: Lumbung-inter-lokal, Kassel-Ekosistem und Lumbung-Indonesien, die als dauerhafte Plattformen funktionieren sollen.
Mehr als 1.500 Künstler*innen und Aktivist*innen, die vorwiegend als Kollektive, kulturelle Organisationen oder Archive auftreten wie *Foundationclass*Collective, Another Roadmap Africa Cluster (ARAC), Asia Art Archive, Baan Noor, Collaborative Arts and Culture, Black Quantum Futurism, Boloho, Britto Arts Trust, Centre d’Art Waza, Chimurenga, Fafswag, Gudskul, Ikkibawikrrr, Inland, Keleketla! Library, La Intermundial Holobiente sind an dem Megaprojekt mit Beiträgen an 32 Standorten beteiligt. Gemeinsam produzieren ist ein Grundcharakteristikum von Lumbung, das hier eine Bestandsaufnahme bzw. einen Querschnitt kollektiver Praktiken liefert, die auch im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit richtungsweisend für den weiteren Verlauf der Kunst sein könnte. Bereits vor der Eröffnung hatte die Lumbung-Community begonnen, sich im ruruHaus am Fridericianum-Platz mit Kassels Stadtgesellschaft und deren unterschiedlichen Gemeinschaften sowie mit Ekosistemen von Künstler*innen an anderen Orten zu verbinden und gemeinsame Impulse für nachhaltige Veränderungen zu setzen. Dafür wurden spezielle Arbeitsgruppen wie lumbung Gallery, lumbung Kinos, lumbung.space und lumbung Radio gebildet. Die Pressekonferenz der documenta fifteen am 15. Juni 2022 im Auestadion von Kassel gestaltete sich zu einem Fest der Lebensfreude und Vitalität, zu deren Höhepunkten die Performance des Lumbung-Künstlers Agus Nur Amal PMTOH zählte, der mit einem bunt bemalten Screen aus Pappe mit humorvollem, eindringlichem Gesang im Karaokestil die anwesenden Künstler*innen, Politiker*innen und Journalist*innen zu mehr Klimafürsorge aufrief.
Unseren Rundgang starten wir diesmal nicht im Zentrum, im Fridericianum, der documenta-Halle, im Auepark, im Ottoneum, im Kulturbahnhof oder im Stadtmuseum, auch nicht im Museum für Sepulkralkultur oder in der Unterführung Frankfurter Straße / Fünffensterstraße oder in der Grimmwelt Kassel, sondern entlang der Fulda, die als documenta-Zone erschlossen wurde. Laut ruangrupa ergab sich die Wahl der Veranstaltungsorte organisch, wie die Hafenstraße 76, deren Standort direkt mit anderen Nachbarschaften im Osten wie mit Bettenhausen, Unterneustadt, dem Hallenbad Ost, dem Platz der Deutschen Einheit oder der Kirche St. Kunigundis zusammenhängt. Zwar sind ruangrupa nicht die ersten, die außerhalb der klassischen Spielorte agieren, allerdings haben sie mit ihrer Dezentralisierung die documenta fifteen noch weiter ausgedehnt in den urbanen Bereich, wo leerstehende Fabriken moderner Industrien der 1960er und 70er Jahre das Stadtbild prägen.
Auf dem Hübner-Areal treffen verschiedene internationale künstlerische Initiativen aufeinander. Die Jatwangi Art Factory verwendet die Tonvorkommen im indonesischen Majalengka für ihre Kunst- und Soundproduktionen. In ihrem Projekt Kota Terakota teilen sie sich den Raum mit dem Trampoline House, das sich von Dänemark ausgehend für die Rechte von Geflüchteten einsetzt, sowie mit dem Tanz-, Theater- und Kunst-Festival sur le Niger in Ségou/Mali, ein Kulturprojekt, das sich mit lokalen Ökonomien auseinandersetzt und mit seinen Aktivitäten die Abwanderung junger Künstler*innen in die Hauptstadt Bamako bremsen will. Die philippinische Künstlerin, Filmemacherin und Menschenrechtaktivistin Kiri Dalena präsentiert hier ihre 5-Kanal-Videoinstallation Pila, Pila (Lines), die zeigt, wie während des harten Corona-Lockdowns Menschen in der philippinischen Hauptstadt Manila ab 2 Uhr früh für 500 Gramm Reis (der täglichen Essensration für fünf Menschen) Schlange stehen mussten. Dalena verteilte Mikrophone und ließ die Menschen während ihrer langen Wartezeit über eine bessere Zukunft reden. Mit ihrem documenta-Budget lud sie philippinische Aktivist*innen ein und veranstaltete mit dem Kollektiv RESBAK (Response and Break the silence against the killings) eine Protestveranstaltung gegen den »Drogenkrieg« von Präsident Rodrigo Duterte, bei dem bereits 30.000 meist Kleindealer und Abhängige getötet wurden.
Das Nest Collective gilt in Ostafrika als kulturelles Vorzeigeprojekt, das einen Fond zur fairen Kreditvergabe an junge Kreative in Afrika (HEVA) gegründet hat. Mit ihrem dystopischen aus Decken und Stoffballen konstruierten Pavillon mitten auf der Karlswiese kritisieren die Mitglieder des Nest Collective den Export gebrauchter Kleidung aus dem Westen nach Afrika. Die Videoinstallation Return to Sender – Delivery Details (2022) untersucht konkret die Zusammenhänge, wie durch die westlichen Alttextilberge und den dadurch bewirkten Secondhand-Handel lokale Produktion verdrängt wird.
Als ein Kollektiv der Kollektive verbindet das 2007 gegründete Arts Collabaratory 25 Organisationen aus Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten, Europa und Asien, deren Zusammenarbeit sich in ›Bangas‹, in persönlichen Treffen und Kooperationen und jährlichen Generalversammlungen manifestiert, die verschiedene Zeiten und Räume miteinander verbinden. Im Vorfeld der documenta wurden mehrere Ausgaben des Newsletter-Magazins documentamtam publiziert. Das Kimina Filma a Rojava arbeitet in der vom Krieg gezeichneten syrisch-kurdischen Region Rojava am Aufbau von Infrastrukturen für das Filmemachen, für Kinovorführungen und Bildung, um für die traumatisierte Bevölkerung Mittel für Empowerment und gesellschaftliche Neugestaltung zur Verfügung zu stellen. Für die documenta fiftteen kuratierte das Kollektiv ein Filmprogramm mit Filmen der Kommune.
Raum gegeben wird im Documenta Center dem Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), das sich als Gegenerzählung zur kubanischen Kulturgeschichte versteht und aus einer Kunstaktion (100 Stunden wurde Hannah Arendts Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen) der Aktivistin Tania Bruguera im Mai 2015 in Havanna hervorgegangen ist. INSTAR ist ein Akronym, das ›ermutigen‹, ›anstiften‹ oder ›aufstacheln‹ bedeutet und seine Inhalte im Austausch mit sozialen Netzwerken entwickelt. Hier wechseln alle zehn Tage die Ausstellungen, sodass 20 Künstler*innen gezeigt werden. Die Installation List of censored Artists (2022) aus einer Ansammlung textiler Schlauchmasken bedruckt mit den Gesichtern von zensurierten Künstler*innen und Intellektuellen bleibt während der gesamten Ausstellungsdauer und demonstriert die Repressalien, welchen kubanische Kulturschaffende durch Inhaftierungen, die Hungerstreiks als Protest zur Folge hatten, in jüngster Vergangenheit durch die kubanische Staatsgewalt ausgesetzt waren.
Zu den Highlights der documenta zählt der Garten von Tuan Mami /Nhà Sàn Collective, für dessen Kultivierung er in Deutschland lebende Vietnames*innen einlud, Pflanzen aus ihrem eigenen Garten einzusetzen. Die Gründung des Nhà Sàn Collectives 2013 geht auf das Nhà Sàn Studio in Hanoi zurück, das 1998 von den Künstlern Nguyn Manh Duc und Tran Luong für junge Künstler*innen, Kollektive und Kreative geöffnet wurde und von dem wichtige Impulse für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst in Vietnam ausgingen.
»White Invaders you are living on stolen land« steht auf einer der Schrifttafeln der Aboriginal Embassy des Künstlers Richard Bell, die mitten auf dem Friedrichsplatz vor dem Fridericianum Unterschlupf für Rastsuchende bietet. Sie bezieht sich auf den Protest der Aboriginal Tent Embassy, die 1972 gegenüber dem Alten Parlament in Canberra aufgebaut war. Der politisch engagierte Künstler Richard Bell gehört zur Gemeinschaft der Kamilaroi, Kooma, Jiman und Gurang Gurang, die gegen die Unrechtspolitik gegenüber den Aborigines protestiert. Auf dem Dach leuchtet eine elektronische Anzeigetafel. Ein von Bell beauftragter Mathematiker errechnet die stetig steigende Höhe des Pachtgeldes, das den Aborigines seit der Landübernahme durch die Invasor*innen geschuldet wird.
»Was d15 für mich freisetzt, ist die Möglichkeit einer ganz anderen Kulturpolitik, denn sie eröffnet neue Vorschläge für das Zusammenleben auf einer Erde, die bereits brennt, ertrinkt und schmilzt,« postet Charles Escher, eines der Findungsmitglieder für die künstlerische Leitung der documenta fifteen, auf Facebook. Die Kunstwelt befindet sich im Wandel. Was die Ereignisse rund um die documenta 15 zeigen, ist die zunehmende Rolle, welcher der globale Süden dabei spielt, begleitet von Polarisierungen, Missverständnissen und Verweigerungen. Dass in den aktivistischen und künstlerischen Projekten des globalen Südens antiimperialistische Positionen weit verbreitet sind und Antisemitismus keine Seltenheit ist, ist keine Neuigkeit. Im Eklat rund um die documenta 15 prallen deutsche Erinnerungskultur, Antisemitismus, Antiimperalismus und dekoloniale Bestrebungen aufeinander. Die Krisensituation erhält durch die Empfehlung der Expert*innenkommission, die propalästinensische Präsentation des Tokyo Reels Film Festivals aus der Ausstellung zu nehmen, wenn die Reels nicht »in einer Form kontextualisiert würden, die ihren Propagandacharakter verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert« nun erneut Zündstoff. Als Reaktion auf den Vorbericht der Expert*innenkommission veröffentlichte die Lumbung-Community einen Rundumschlag unter dem Titel: »We are angry, we are sad, we are tired, We are united«. Dieser ist gespickt mit nicht nachvollziehbaren Vorwürfen des Rassismus und der fehlenden Wissenschaftlichkeit. Die Forderung nach dem Recht der Künstler*innen, »politische Formeln und festgefahrene Denkmuster zu untersuchen, bloßzulegen und zu kritisieren« durch die documenta-Findungskommission, muss auch für die Kritike\r*innen gelten. Unterschiedliche Perspektiven treffen aufeinander und obwohl oder gerade weil sich dadurch Konfliktfelder öffnen, wird die documenta 15 als eine documenta der Zeitenwende in die Geschichte eingehen.
Defizite in der Organisation der Produktion ließen bei einigen der Künstler*innen Frustration aufkommen. Hito Steyerl zog sich, ausgelöst durch die Antisemitismusdebatte und der Weigerung des Kurator*innenkollektivs, dazu in Dialog zu treten, aus der documenta fifteen zurück und demontierte ihre multimediale Installation. Die Filme der Installation können jetzt auf Video in einer Videothek in Kassel ausgeliehen werden. Die documenta fifteen bildet ein Gegenkonzept zum Kunstmarkt und sieht Kunst als Prozess auf Basis von Wissen und Können, als gemeinschaftlichen Prozess, aus dem neue Formen von Ökonomien, neue Lösungen für Kunst und Kultur resultieren und Nachhaltigkeit selbstverständlich gelebt wird.
Ursula Maria Probst