Doing Image
Zum erweiterten Feld des Filmisch-Dokumentarischen im urbanen Raum am Beispiel der Filme Coma von Sara Fattahi und Counting von Jem CohensÜber welche Mittel verfügt der Film, das Kino in Situationen des Ausnahmezustandes, im Dokumentieren von urbanem Leben unter der Bedrohung durch Krieg und Bombardierung? Welche Möglichkeiten der Artikulierung finden sich, um aufzuzeigen, wie sehr dem individuellen Schicksal Einzelner durch politische Fehlentscheidungen oder Unterlassungen bzw. korrupten Systemen eine Warteposition
mit ungewisser Zukunft und ungewissem Aus-gang aufgezwungen wird. Viele von uns fragen sich aufgrund der anhaltenden Flüchtlingsströme aus Syrien, welche überwiegend aus Männern bestehen: Wo sind die Frauen geblieben?
Der während der diesjährigen Viennale präsentierte Film Coma (2015) der syrischen Regisseurin Sara Fattahi zeichnet ein filmisches Stadt-Porträt der derzeitigen Lebenssituation in Damaskus anhand des Alltags dreier Frauen. Als Protagonistinnen treffen wir in Sara Fattahis Film auf sie selbst (sie hält gleichzeitig auch die Kamera), ihre Mutter und ihre Großmutter. Ohne dass die Stadt im Film selbst real sichtbar wird, ist sie durch die kriegsbe-dingten Einschränkungen der Handlungs- und Bewegungsräume der Protagonistinnen präsent. Die drei Frauen im Film, der ihren durch den Krieg stagnierenden Alltag dokumentiert, verbindet eine persönliche Lebensgeschichte, ein narrativer Strang, ein die Gesprächslücken, das Schweigen gleichzeitig durchdringender innerer Dialog, dessen visuelle Soziologie durch eine antinarrative Schnittabfolge gebrochen wird. Laut Sara Fattahi, die bei der Präsentation von Coma selbst anwesend war, zeigt der Film die Situation dreier während des Krieges in Damaskus in ihrem Haus ausharrender Frauen aus einer sehr intimen, autobiografischen Perspektive. Gleichzeitig steht der Film exemplarisch für ein Leben im Stillstand. Im Film virulent wird der Generationskonflikt: Während ihre Mutter als attraktive Mittvierzigerin wie eine Femme Fatale nonstop an einer Zigarette zieht und vor laufender Kamera ihr Leben Revue passieren lässt, versinkt ihre Großmutter in die Lektüre des Korans. Zu einer Auflockerung der Anspannung kommt es im gemeinsamen Kartenspiel.
Sara Fattahi bedient sich experimenteller filmischer Mittel, lenkt die Aufmerk-samkeit durch den Wechsel von Nahaufnahmen und Unschärfen empathisch darauf, wie sich die unterschiedlichen
Charaktere dreier Frauen aneinander reiben. Ein besorgter Blick durch verschlossene Gardinen in den urbanen Außen-raum, Nachrichteneinspielungen und Bilder der Zerstörung von Damaskus via Fernsehmonitor konfrontieren mit der Brutalität der Realität draußen in der Stadt. Der Film spielt vorwiegend im Innenraum des Familienhauses und ist in orangefarbenes Licht getaucht. Im Farbcode der US-amerikanischen Behörde für innere Sicherheit signalisiert die Farbe Orange die höchste Terrorwarnstufe. Die Farbe Orange evoziert eine Aura der Drastik und Desorientierung, die sich durch die Fernsehnachrichten in ein Verhältnis zu einer durch die Medien transportierten Wirklichkeit der Zerstörung setzt. Die Begegnung zwischen der Kamera und den Frauen erzeugt eine eigene Realität, die sich aus den zunächst existierenden dokumentarischen Rahmenbedingungen löst und sich zu einem documentary turn gestaltet, wie er von der Medientheoretikerin und Künstlerin Hito Steyerl in ihrer Publikation Die Farbe der Wahrheit (2008) zur Diskussion gestellt wurde.
Der Hypnosewirkung des ebenfalls bei der Viennale präsentierten Dokumentarfilms Counting (2014) des in Kabul geborenen und heute in den USA lebenden Regisseurs Jem Cohen (Arbeiten von ihm befinden sich auch in der Sammlung des MoMA) vermag man sich kaum zu entziehen. Wie Coma ist Counting ein sehr intensiver persönlicher Film, der uns allerdings heraus aus der Isolation zu einem visuellen Streifzug durch internationale Metropolen wie New York, Moskau, St. Petersburg, Istanbul und Porto einlädt. Eine der durchstreiften Städte bleibt unbenannt, der Regisseur setzt auf Déjà-vu-Effekte eigener Stadterfahrungen.
Was zunächst wie eine Aneinanderreihung von Schnappschüssen wirkt, die teils aus den Fenstern fahrender Züge gemacht wurden, gewinnt in der Zusammenstellung der Sequenzen zu 15 Kapiteln an essayistischer Struktur. Konzipiert als Hommage an den Kultregisseur Chris Marker (Sans Soleil, 1983) – mit ihm befindet sich Jem Cohen seit zehn Jahren im Austausch –, konzentriert sich Counting auf eine Sprache der Bilder, auf Momentaufnahmen, die teils impressionistische Züge zeigen. Jem Cohen hält durch die Kamera öffentliche, urbane Räume und Straßenzüge fest und sucht dabei nicht nach dem Spektakulären oder Außergewöhnlichen, sondern lässt uns zu mit den Augen spazierenden FlaneurInnen werden, welche die durch seine Bildsequenzen vermittelten urbanen Wirklichkeiten abtasten. Wie eine Partitur komponiert, lebt der Film aus der Schnittabfolge von Bildern, Tönen und Musik. Beiläufig hören wir Stimmen aus dem Off und schnappen wenige kurz eingeblendete Textfragmente auf, die in Übersetzung soviel bedeuten wie »Wer niemals einen Sonnenbrand hatte, weiß die Qualität des Schattens nicht zu schätzen.«
Es ist das Leben selbst, dessen Zwischenräume und Zwischenzeiten uns Jem Cohen durch seinen Film und dessen Bildersog eröffnet. Dazwischen geschnitten ist Footage-Material von den Black Lives Matter-Demonstrationen und deren Aktivitäten in New York oder Schnappschüsse seiner Mutter. Jem Cohen präsentiert durch seine Anwendung essayistischer Methoden und das Einbeziehen performativer Momente in der ästhetischen Praxis gleichzeitig einen Methoden-Mix, durch den er uns mit einer diversifizierten medialen Verfasstheit von Film konfrontiert. Der Vorstellung, durch Film in Bildern zu denken und so komplexe Zusammenhänge zu erfassen, bringt uns Counting näher, dessen Montage von Stadtsequenzen zu einem wilden Denken, Assoziieren und Imaginieren verführt. Im Sinne des Filmwissenschaftlers Raymond Bellour wird so ein Denken in Raum-Zeit-Blöcken durch urbane Passagen und deren Mediatisierung angeregt. Komplexe Formen des filmischen Experiments, der Bildlektüre, der Montage mit Soundeinspielungen, der ästhetischen Produktion spielen hier ineinander und lösen ein erweitertes Verständnis von urbanem Leben in verschiedenen ökopolitischen und soziokulturellen Kontexten aus.
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Viennale – Vienna International Film Festival
22. Oktober bis 5. November 2015
Coma, Sara Fattahi (Syrien/Libanon 2015)
Counting, Jem Cohen (USA 2015)
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Ursula Maria Probst