» Texte / Dos Naye Lebn — Birobidschan, das Jerusalem am fernöstlichen Amur

Ursula Maria Probst


Wie wird eine inmitten eines Niemandslandes im Fernen Osten unter Stalin gebaute Stadt an der transsibirischen Eisenbahn – 8.000 km von Moskau und 130 km von der Volksrepublik China entfernt – zum Austragungsort einer künstlerischen Auseinandersetzung zu Fragen des Jüdischen Autonomen Gebietes der Russischen Föderation? Das Projekt Birobidshan – Birobidschan, so lautet auch der Name der Stadt, deren Historie in den 1930er Jahren unter dem Vorzeichen der Utopie von einem fernöstlichen Jerusalem stand und in der heute der jüdische Bevölkerungsanteil nur noch einen geringen Prozentanteil beträgt – ist eine kosmopolitisch ambitionierte Kooperation von internationalen Institutionen wie dem Birobidschaner Jüdischen Gemeinschaftszentrum Fried, dem Jüdischen Museum und Toleranzzentrum Moskau, dem Jüdischen Museum Wien, der Regierung des Jüdischen Autonomen Gebietes, der Botschaft des Staates Israel in der Russischen Föderation und des Bundeskanzleramtes der Republik Österreich. Initiiert wurde es von Simon Mraz vom Österreichischen Kulturforum in Moskau, dem es in den vergangenen sieben Jahren gelungen ist, für seine Projekte an außergewöhnlichen Schauplätzen in Russland wiederholt Stadt- und Industrieräume durch künstlerische Projekte für die internationale Öffentlichkeit zu erschließen.1928 als Hauptstadt der Jüdischen Autonomen Region (JAR) ins Leben gerufen, bestand die Intention für die Gründung von Birobidschan zunächst darin, ein Territorium für Juden und Jüdinnen in der Sowjetunion zu schaffen, das eine kommunistische Alternative zu dem damaligen zionistischen Nationalprojekt in Palästina – aus dem später der Staat Israel hervor­-ging – bilden sollte. Als erster jüdischer Staat stillte Birobidschan die Sehnsucht von nicht-zionistischen, sozialistischen Juden und Jüdinnen weltweit, die trotz widriger Bedingungen (ein für die Landwirtschaft ungeeignetes Sumpfgebiet mit mehrmonatigen Mückenplagen) unter anderem aus Argentinien, Palästina oder den USA in das Jerusalem am Amur-Fluss migrierten und soziale und kulturelle Institutionen aufbauten, die teils heute noch existieren. Den Stadtplan für Birobidschan entwarf der Schweizer Architekt Hannes Meyer (1889-1954), der, nachdem er 1930 als zweiter Direktor des Bauhaus‘ in Dessau entlassen wurde, in die UdSSR übersiedelte und dort vom Staat beauftragt wurde, Städte und andere Großprojekte zu planen. Im Jahr 1933 besuchte Meyer Birobidschan, eines seiner umfassendsten Projekte, für das er auch einige Gebäude ausführte. Ein weiterer Output seines damaligen Aufenthaltes ist sein Theaterstück Birobidschan (1933), für das er die von ihm entwickelte experimentelle performative Methode des propagandistischen Spiels anwandte, das er Co-op Theater nannte.
Der in Meyers persönlichem Archiv gefundene Text bildete den Ausgangspunkt für das Video Journey to the Far East (2017), das Nir Evron, der als Filmemacher in Tel Aviv lebt, und Omer Krieger, der sich in seiner Kunst stark mit Beziehungen zwischen Kunst, BürgerInnen, Politik und Aktion im öffentlichen Raum befasst und 2011–15 als künstlerischer Direktor für das Kunstfestival Under the Mountain in Jerusalem tätig war, gemeinsam produzierten. In ihrem Video Journey to the Far East kombinieren Evron und Krieger dokumentarisches Footage-Material mit Bühnenperformances des lokalen Theaters und der Puppentheater-Gruppe. Die Original-Musikpartitur wird dabei durch eine mit rhythmischen Beats durchsetzte Pop-Komposition ersetzt.
Präsentiert wurden das Video wie auch die Installationen der weiteren in das Ausstellungsprojekt BIROBIDSHAN involvierten KünstlerInnen wie Ekaterina Anokhina (Russland), Tatiana Efrussi (Russland), Anton Ginzburg (USA), Yevgeniy Fiks (Russland/USA), Srdjan Jovanovic Weiss (Serbien/USA) und Seo Hee Lee (Südkorea), Leopold Kessler (Österreich), Yuri Palmin (Russland), Ekaterina Shapiro-Obermair (Österreich) und Heim Sokol (Russland/Israel) als Teil des Jüdischen Kulturfestivals 2017 im öffentlichen Raum und in der Philharmonie in Birobidschan. Die KünstlerInnen reisten für die Konzeption und Realisierung ihrer Werke an. Ekaterina Shapiro-Obermair interviewte für ihre multimediale Installation With you, we will be all right Schul­kinder des Birobidschaner Lyceums No. 23, der heute einzigen Schule der Stadt, wo jüdische Geschichte und Traditionen gelehrt und Jiddisch und Hebräisch unterrichtet werden. Die Anzahl der Kinder mit nichtjüdischen Eltern überwiegt dennoch. Die Kinder werden in dem Video zu ihren Einstellungen über die Zukunft der Stadt und ihre persönlichen Pläne befragt. Im Unterschied zu ProtagonistInnen von Propagandafilmen fesseln die Kinder durch ihre unverblümte Direktheit im Umgang mit der Konfrontation zu Fragen bezüglich des »Wir« und des »Anderen«. Teil der Installation sind Schulholzbänke, die aus demselben Material produziert wurden, wie es die ersten SiedlerInnen für ihre Häuser verwendeten. Am Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen unter dem Namen Neues Leben unzählige Publikationen. Der Künstler Yuri Palmin nimmt dieses Phänomen und die dadurch auch provozierten Widersprüche zwischen radikalen Utopien und der aktuellen Realität in Birobidschan als Ausgangspunkt für sein Projekt, welches sich mit der touristischen Exotisierung des Judentums in Birobidschan kritisch auseinandersetzt. Der eine 7-Kanal-Videoinstallation umfassende Beitrag Birobidzhan Dreamin’ von Yevgeniy Fiks, Srdjan Jovanovic Weiss und Seo Hee Lee startet wie der populäre Song California Dreamin‘ in New York. In Interviews mit den Architekturprofessoren Jean-Louis Cohen, Yehuda Safran und Daniel Talesnik, sowie der Professorin für jüdische Geschichte Cecile Kuznitz, dem New Yorker High-School-Lehrer Robert Sandler, der Künstlerin und Kunsthistorikerin Tatiana Efrussi und dem lokalen Historiker von Birobidschan, Josif Brener, wird die Historie der Stadt unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Teil der Installation ist auch ein 3-D-Modell von Birobidschan, das vom Architekten Hannes Meyer gestaltet wurde. Birobidzhan Dreamin stellt den Versuch an, unzählige ungelöste Fragestellungen des 20. Jahrhunderts, die in das 21. Jahrhundert hineinwirken, unter verschiedenen Vorzeichen aufzurollen, thematisiert wird die spannungsgeladene Beziehung zwischen modernistischen Projektambitionen und kommunistischen Ideologien sowie das anhaltende Verlangen nach Autonomie und Multikulturalismus und stellt in Folge einen Bezug zur jüdischen und sozialen Geschichte von New York her. Leopold Kesslers temporäres Rampen-Projekt im öffentlichen Raum, Birobidzhan Driveaway, basiert auf der Idee des die Gründung von Birobidschan vorantreibenden Pioniergeistes und wirkt in diesem Kontext wie die Aufforderung zu einem umfassenden Neustart.

BIROBIDSHAN, eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Jüdischen Autonomen Gebiet der Russischen Föderation 7. Juni 2017 bis 28. Februar 2018
Eine Publikation dazu in russischer und englischer Sprache ist in Produktion. Darin wird bislang unveröffentlichtes Fotomaterial der späten 1920er und frühen 1930er Jahre aus den Beständen des Ethnographischen Museums St. Petersburg abgedruckt werden.


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