Durch Tanzen Gemeinschaften bilden!
Besprechung des ImPulsTanz-Festivals 2024Wie können wir für eine ›gemeinsame Welt‹ unser Wohlbefinden und gesundheitliche Ressourcenströme mehr in Richtung Körperbewusstsein und Bewegungsfreude aktivieren? Dem diesjährigen ImPulsTanz-Festival ist es gelungen, seine Kooperationen und Infrastrukturen über die Grenzen Wiens in die Bundesländer österreichumspannend auszudehnen. Im Rahmen der barrierefreien Outdoor-Tanzklassen von Public Moves wurde 2024 erstmals auch in Klagenfurt, Linz und Salzburg quer durch alle Altersgruppierungen und Genres wie Tai Chi, African Dances, Stepptanz oder Hip-Hop unter freiem Himmel getanzt. Die Bevölkerung dankt es mit begeistertem Mitmachen. In Wien schreibt sich Public Moves ebenfalls expandierend in die Bewegungs-DNA der Stadt ein. Jede:r konnte sein urbanes Tanz-Mapping durch Public Moves an sieben Locations wie Seestadt, Museumsquartier, Papstwiese, Kaiserwiese, Badeteich Hirschstetten, Schwarzenbergplatz und Richard-Wagner-Platz kostenlos austesten. Wem nach mehr Tiefgang verlangte, standen 260 Workshops zur Auswahl.
Ohne es im wortwörtlichen Sinn überzustrapazieren, zählt Diversität zu den Kerncharakteristiken des ImPulsTanz-Festivals, dem es gelingt, internationale und lokale Produktionen unterschiedlicher Formate mit inklusivem Ansatz zu vereinen. Während der urbane Raum durch Public Moves zur Tanzzone wurde, konnte der interaktive und transdisziplinäre Erfahrungshorizont bei ImPulsTanz im Museum durch das Performancefestival nowhere / now here im mumok oder William Forsythes partizipatorischen Installationen im MAK oder durch Performances in der Künstler:innenhaus-Factory aufgefrischt werden. Auffällig am diesjährigen Programm, wie akrobatische und die Grenzen des Körperlichen auslotende Choreografien an Attraktivität gewinnen und Tanz als Waffe gegen Ungleichbehandlung und Diskriminierung eingesetzt wird.
Seit den Nullerjahren erfreut sich Krump als Selfempowerment-Tool bei Jugendlichen zunehmender Beliebtheit. Als Tanzstil marginalisierter Gruppen und als kreativer Ausdruck gegen Rassismus und Unterdrückung entwickelte sich der Freestyle-Tanz Krump in der afroamerikanischen Gemeinde von South Central Los Angeles und wurde als expressives und aggressives Battle zelebriert: Tanzen anstatt Drogen zu nehmen oder mit kriminellen Gangs abzuhängen. Ein ermutigendes Konzept, das auch in den Favelas Brasiliens praktiziert wird. Die französische Choreografin Maud Le Pladec lässt uns durch ihre mit der zehnjährigen Adeline Kerry Cruz entwickelten energetischen Performance kurz mal die Luft anhalten. Mit Silent Legacy erarbeiteten sie gemeinsam eine Soziologie des Tanzens und hinterfragen, wieso Transfers zwischen Identitäten, Generationen und Gemeinschaften stattfinden oder Verlustgefühle und Ohnmacht in Tanz transformiert werden können: Tanz als Widerstand und Befreiungsmittel? Dabei tritt Kerry Cruz mit radikaler Authentizität stampfend mit schwingenden Armen Grimassen ziehend als Krump-Performerin in Dialog mit der zeitgenössischen Tänzerin Audrey Merilus.
In der von acht Tänzer:innen performten akrobatischen Choreografie Foreshadow von Alexander Vantournhout, die Algorithmen folgt, ist jeder Bewegungsablauf minutiös geplant und passiert wie auf einem 90 Grad gekippten Vertikalboden an der Wand entlang. Ziemlich beeindruckend, wie die Tänzer:innen auf die von Alexander Vantournhout vorgegebenen Situationen des ›mentalen Ausbrütens‹ , des ›Vorausdenkens‹ und ›Vorplanens‹ durch präzise ihnen körperliche Höchstform abverlangende Bewegungsabfolgen reagieren. Die Newcomer Reihe [8:tension], erstmals von Breanna O’Mara und Chris Haring kuratiert, fokussiert unter dem Slogan I love it. What is it? auf die »Kraft der seltsamen Liebe« und weckt Neugierde darüber, was wir heute als ›seltsam‹ benennen. In den Zuschreibungen humoristisch verzerrend, zeigt sich, wie sich im Tanz neue Begrifflichkeiten bzw. absurde Wortkreationen artikulieren. Zu den Highlights von [8:tension] zählt das zwischen Deva Schubert und Chihiro Araki in Begleitung eines Chors feministisch aufgeladene, im Spannungsfeld zwischen äußerster körperlicher Anspannung und Körperlosigkeit ausgetragene Eröffnungsduett Glitch Choir eines Klageliedes. ›Glitch‹ bedeutet (digitale) Störung von Informationen als verzerrtes Bild oder stockendes Video. Sich am kollektiven Körper der Trauer orientierend, kreieren die Performer:innen im Wechselspiel zwischen Privatem und Öffentlichem, Distanz und hypnotischer Umarmung einen Raum der intimen Multiresonanz. In permanenter Transition verhandeln Vini Ventania, Vitoria Jovem / Irmas Brasil in Eunuchs als Wildpferde, Meerjungfrauen, Nymphen und Lilith-Gestalten unter intensiver Einbeziehung des Publikums Leben und Begehren im Vorzeichen der Postsexualität. Genüsslich wird in ein Weinglas uriniert und ans Publikum gereicht. Reflektiert werden dabei historische Kastrationsprozesse und couragiert politisch Stellung bezogen gegenüber derzeit erneut aufflammenden Phobien gegenüber Transgender und Transidentitäten. From the Throat to the Dawn von Sorour Darabi / Deepdawn ist gefasst als erotische Reise konzipiert mit toxischen Schatten der Nacht aus der Perspektive von Scheherazade, der Erzählerin aus Tausendundeine Nacht. Dana Michel lässt das Publikum in ihrer dreistündigen Performance lange im Ungewissen und schafft dadurch eine Situation, die emphatisch sensibilisiert den marginalen Charakter und die nomadische Ästhetik performativer Arbeitspraktiken thematisiert. Trajal Harell, bekannt dafür, gerne mit anderen Teilnehmer:innen des Festivals zu kooperieren, schafft mit (M)IMOSA, an dem sich Cecilia Bengolea, Francois Chaignaud und Marlene Monteiro Freitas beteiligen, in der Programmschiene ImPulsTanz Classic ein Aufeinanderprallen referenzreicher Einzelperformances. Ausgehend von der Frage »Was wäre passiert, wenn 1963 jemand aus der Voguing-Szene Harlems mit den frühen Postmodernist*innen der Judson Church im Greenwich-Village performt hätte?« und von dem Dokumentarfilm Paris is Burning (1990) entwickeln sich soziale und Genderidentitäten über Mode, Bewegung und Habitus hinterfragende Parodien.
Kontinuität zählt neben Mut zum Experiment zu den Qualitäten von ImPulsTanz. Wim Vandekeybus meldet sich mit Infamous Offspring, das als in die Gegenwart übertragene Familiengeschichte im antiken Gött:innenmilieu spielt, mit der Company Ultima Vez auf der Bühne zurück. Der südafrikanische Allrounder William Kentridge verbindet in The Great Yes, The Great No? Fragen zur Dekolonisation mit Fragen zu aktuellen Migrationsprozessen. Anne Teresa De Keersmaeker, deren Compagnie zu den alljährlichen Fixstarter:innen des Festivals zählt, sieht sich derzeit mit Vorwürfen betreffend eines toxischen Führungsstils konfrontiert. Arbeitskultur und faires Miteinander in Recherche- und Probeprozessen befinden sich im Kulturbetrieb aktuell in Umstrukturierung und sind zunehmend fixer Bestandteil kritischer Selbstreflexionen von Festivals.
ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival
11.7.–11.8.2024
Ursula Maria Probst