
Editorial dérive 100
25 Jahre sind eine lange Zeit und im letzten Vierteljahrhundert hat sich vieles verändert. Lese ich heute das Editorial, das ich für die erste Ausgabe von dérive geschrieben habe, bin ich deswegen ein wenig verwundert, dass das damals in wenigen Zeilen vorgestellte Konzept von dérive in seinen Grundzügen auch heute noch gültig ist. Ob das nun für oder gegen die Zeitschrift spricht, mögen andere beurteilen. Die dérive-Redaktion ist jedenfalls erfreut, dass die Zeitschrift auch heute – 100 Ausgaben später – mit Interesse gelesen wird. Natürlich sind wir auch ein wenig stolz darauf, es geschafft zu haben, ohne irgendeiner Institution im Rücken und mit ökonomisch bescheidenen Mitteln, dérive so lange Zeit im Eigenverlag herauszubringen und eine relevante Akteurin im kritischen urbanistischen Diskurs zu sein. Zur Feier des Jubiläums zeigen wir ab 14. Oktober im Wiener Kunstraum fjk3 eine Ausstellung, die sich mit Themen beschäftigen wird, die dérive und urbanize! über die Jahre begleitet haben und die wir nach wie vor für relevant halten.
Damit zum Schwerpunkt der 100. Ausgabe: Zeit – Planung und Alltag. Michael Klein, Initiator des Schwerpunkts, schreibt in seinem einleitenden Text: »Der Streit, wer über die Zeit verfügt, über ihre Bewertung und Verteilung, über die Struktur und den Verlauf zeitlicher Prozesse ist Gegenstand der politischen Auseinandersetzung – der Chronopolitik.« Der Kampf um die Arbeitszeit begleitet politische Kämpfe seit dem 19. Jahrhundert, dass es aber nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch insgesamt um ›Zeitgerechtigkeit‹ geht, also auch um die Verteilung der Care-Arbeit, wird in feministischen Kämpfen seit langem gefordert. Marta Junqué Surià und Marc Martorell Escofet greifen diesen Aspekt in ihrem Beitrag auf und zeigen, welche Möglichkeiten es gibt, mit Zeitpolitik die Lebensqualität aller Stadtbewohner:innen zu verbessern. Ein konkretes Beispiel dafür zeigt Jerome Becker in seinem Artikel. Er führt an, dass »auch Vorstellungen von Wohnen durchaus von zeitpolitischen Motiven geprägt sind« und der kommunale Wohnungsbau im Roten Wien ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist.
Besonders relevant ist die Bedeutung der Zeit für Fragen der Planung. Mehrere Beiträge des Schwerpunkts gehen darauf ein. Erik Meinharter leitet seinen Text mit einem Zitat von Rebecca Bornhauser und Thomas Kiessling ein, die in Erinnerung rufen, was heute scheinbar nicht wahrgenommen werden will: »Landschaftsarchitektur ist eine langsame Disziplin, naturbedingt.«
Langfristige Planung braucht es auch dann, wenn es darum geht, Gebäude, deren ursprüngliche Nutzung nicht mehr nachgefragt ist, so zu bauen, dass sie problemlos eine andere Nutzung erfahren können. Eine solche – ideale –Vorgehensweise ist, wie Anamarija Batista und Julia Siedle in ihrem Beitrag Ökonomische und ökologische Mechanismen urbaner Obsoleszenz schreiben, »zentral für eine nachhaltige Transformation der gebauten Umwelt«. Barcelona ist eine Stadt, deren städtebauliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit erfahren hat. Kathrin Golda-Pongratz, Xavi Matilla Ayala und Jere Kuzmanić tauschen sich in einem als Teil des Schwerpunkts abgedruckten Gespräch ausgehend von der 15-M-Protestbewegung (2011) darüber aus, welche Rolle der Faktor Zeit dafür gespielt hat: Wie in der Stadtplanung der Spagat zwischen »Perfektionslähmung und Echtzeitaktionismus« gelingen kann und welche Aspekte es dabei zu berücksichtigen gilt, ist Thema des Textes von Udo W. Häberlin, Andreas Radin und Agnes Breunig. Manfred Russo schließlich holt mit besonderer Bezugnahme auf Paul Virilio und Michel Serres historisch weit aus und nimmt sich der Kinetik der Stadt an.
Eine Besonderheit dieses ersten Teils der Jubiläumsausgabe sind drei literarische Miniaturen, die Anna-Maria Stadler, Jeff Derksen und Thomas Ballhausen für dérive verfasst haben und über die wir uns besonders freuen. In Teil zwei, der als dérive Nr. 101 im Oktober erscheint, wird es weitere Prosatexte geben. Das Kunstinsert verdanken wir dem britischen Künstler Sam Meech, der sich über Zeit, die Produktion von Kunst und ihre Bezahlung Gedanken macht.
Eine äußerst traurige Nachricht hat uns vor einigen Wochen erreicht. Klaus Ronneberger, dérive von Anfang an freundschaftlich verbunden und als Autor tätig, ist verstorben. Ein Nachruf ist auf Seite 58 zu lesen. Verstorben sind in den letzten Monaten leider zwei weitere dérive-Autoren: Der Kulturwissenschaftler Roman Horak und Rudi Gradnitzer, einer der Betreiber des Verlags bahoe books. Beide waren für uns mehr als ›nur‹ Autoren. Sie waren jeder für sich außergewöhnliche Menschen, die man gerne getroffen hat und mit denen man ebenso unterhaltsame wie inspirierende Gespräche führen konnte.
Save the date: urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen – It’s about time – Rhythmen, Zyklen, Zeitregime der Stadt – findet vom 14. bis zum 29. Oktober statt.
Produktive Verunsicherung und utopischer Überschuss!
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.