Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Wien feiert dieses Jahr bekanntlich 100 Jahre Rotes Wien, eine Ära die, wie man ohne Übertreibung behaupten kann, weltweit Maßstäbe für die Wohnraumversorgung gesetzt hat. Nicht oft genug kann man darauf hinweisen, dass das Rote Wien nicht nur der Gemeindebau, sondern auch die SiedlerInnenbewegung war. Sie hat es in einer Zeit unglaublicher Not geschafft, mit bewundernswert schlauen Maßnahmen die von Materialbeschaffung über Finanzierung bis zur Arbeitsorganisation und Bodenbeschaffung reichten, Wohnraum für tausende Familien zu schaffen und selbstorganisiert zu verwalten. Einige der besten ArchitektInnen der damaligen Zeit haben sich für die SiedlerInnenbewegung engagiert, darunter Margarete Schütte-Lihotzky, Josef Frank oder Adolf Loos, Otto Neurath war eine ihrer zentralen Figuren. Leider verlor die SiedlerInnenbewegung nach anfänglicher Unterstützung, vor allem durch Jakob Reumann, den ersten Bürgermeister des Roten Wien, rasch an Bedeutung. Die große Chance, die demokratischen Alltagserfahrungen, die gemeinwirtschaftliche Expertise und die Fähigkeit zur kollektiven Selbstorganisation der SiedlerInnenbewegung in die DNA der SDAP (heute SPÖ) aufzunehmen, wurde damals vergeben und bis heute nicht mehr aufgegriffen.
       Klaus Novy, dem leider viel zu früh verstorbenen Experten für die SiedlerInnen- und Genossenschaftsbewegung, ist es unter anderem zu verdanken, dass die Geschichte der Wiener SiedlerInnenbewegung nicht auf ewig unentdeckt blieb. Er hat zahlreiche Texte darüber publiziert und in den 1980er-Jahren eine Ausstellung über die SiedlerInnenbewegung zusammengestellt, die in Wien und zahlreichen deutschen Städten zu sehen war. Auch die GründerInnen des Mietshäuser Syndikats sind irgendwann auf Texte von Klaus Novy gestoßen und haben von ihm die Idee des Solidarfonds aufgegriffen, der heute sowohl Teil des Konzepts von Mietshäuser Syndikat und Habitat als auch den jungen Schweizer Genossenschaften ist.
       In dieser Ausgabe zur Wohnungsfrage veröffentlichen wir einen Text von Klaus Novy aus den frühen 1980er-Jahren, weil er den Schwerpunkt bereichert, aber natürlich auch, weil er im Jubiläumsjahr auf die weniger bekannten Wohnkonzepte des Roten Wien verweist. Über die jungen Schweizer Genossenschaften haben wir ein ausführliches Interview mit Andreas Wirz, einem Mitbegründer der Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 und Vorstand im Regionalverband Zürich der Wohnungsbaugenossenschaften Schweiz, geführt. Sieht man sich an, wo die Ursprünge all dieser Bewegungen (SiedlerInnenbewegung, Mietshäuser Syndikat, Schweizer Genossenschaftsbewegung) liegen, stößt man schnell auf Haus- bzw. Landbesetzungen. Das zeigt, dass in kollektiver Selbstorganisation eine hohe Innovationskraft und ein demokratiepolitisches Potential liegen, die, wie bei der Wohnungsfrage sichtbar wird, für gesellschaftspolitische Herausforderungen immer wieder gute Lösungen ermöglichen. Die Notwendigkeit einer MieterInnen-Selbstorganisation am Beispiel Los Angeles verdeutlicht der Schwerpunkttext von School of Echoes über den Aufbau der LA Tenants Union.        Wer dérive regelmäßig liest, dem wird nicht entgangen sein, dass wir dem Konzept, Wohnraum als Ware zu behandeln, ablehnend gegenüberstehen, weil es gesellschaftlich höchst unerwünschte Folgen zeitigt. Wohnen ist ein nicht substituierbares Gut und daher ein UN-Menschenrecht. Es gab und gibt zahlreiche Möglichkeiten, der Spekulation mit Wohnraum einen Riegel vorzuschieben, umso unverständlicher ist es, dass es mittlerweile trotzdem als normaler Vorgang gilt, wenn Wohnhäuser in immer kürzeren Abständen die EigentümerInnen wechseln. Aus einer nicht profitorientierten Perspektive erscheint es im Sinne des Gemeinwohls völlig absurd, dass jede/r EigentümerIn aufs Neue erwarten darf, mit einem durch meist jahrzehntelange Mieteinnahmen längst abbezahlten Haus Profit zu machen. Ebenso absurd ist es, gut 40 Jahre nach Maggie Thatchers katastrophaler Right-to-buy-Politik, wenn eine österreichische Regierung in der aktuellen Lage am Wohnungsmarkt beschließt, den Verkauf von gemeinnützigen Wohnungen zu erleichtern, wie es vor wenigen Monaten passiert ist. Nichts anderes lässt sich über die Möglichkeit von befristeten Mieten oder Lagezuschlägen sagen. Das Wiener Forum Wohn-Bau-Politik hat sich angesichts der ungeklärten Probleme, der verhärteten Positionen der Parteien und der fehlenden Lösungsorientierung auf Bundesebene in Sachen Wohnungsfrage entschlossen, selbst einen Wohnrechtskonvent zu organisieren, der seit einigen Monaten läuft. Wie der Stand der Dinge ist, berichtet Barbara Ruhsmann in ihrem Beitrag für den Schwerpunkt.
       Des Weiteren bietet der Schwerpunkt einen Beitrag über die Positionen zur Wohnungsfrage von rechtsextremen Parteien wie der AfD sowie der FPÖ und ein Interview über die Situation von Wohnungs- und Obdachlosen in Wien. Mehr über das Schwerpunktthema und die einzelnen Beiträge findet sich im Einleitungsartikel.
       Seit dem letzten urbanize! Festival, das im Oktober 2018 in der Wiener Nordbahnhalle stattgefunden hat, engagieren wir uns für den Erhalt dieses wichtigen Raums, dem der Abriss droht. Wie es dazu kam, wie der Stand der Dinge ist und wie es weitergehen soll, ist im Magazinteil nachzulesen. Wer sich uns anschließen oder uns unterstützen will, ist herzlich willkommen.
       Einer Halle, die in Wien vor genau 40 Jahren abgerissen wurde und die ebenfalls die Chance geboten hätte, ein Stadtteilzentrum zu werden, widmet Andreas Zeese einen Artikel in diesem Heft. Darin geht es nicht nur um die damals kurzfristig besetzte Halle, sondern um einen ganzen Stadtraum, der aus dem Wiener Stadtbild verschwundenen ist.
       Das zehnte urbanize! Festival steht vor der Tür und widmet sich mit dem Jubiläumsprogramm Alle Tage Wohnungsfrage dem Wohnen aus der Perspektive von Architektur und Stadtplanung, Politik und Gesellschaft, Ökonomie und Ökologie – und fahndet dabei nach konkreten Utopien fürs Wohnen der Gegenwart und Zukunft. Wir freuen uns auf interessiertes und diskussionsfreudiges Publikum.


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