Editorial dérive 83
Wie unsere Städte geplant sind und welches Städtebau-Paradigma verfolgt wird, legt die Basis dafür, welche Mobilitätsformen möglich sind und vorherrschen. Das lässt sich am Beispiel Wien mit zahlreichen Statistiken nachweisen (alle folgenden Zahlen zur Verkehrssituation stammen vom unentbehrlichen VCÖ). In den zentrumsnahen, dicht bevölkerten Bezirken mit einem engmaschigen Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln nutzen die Menschen diese, gehen viel zu Fuß oder fahren mit dem Rad. In den dünner besiedelten Randbezirken nimmt das Auto noch einen relativ hohen Stellenwert ein. In neun von 23 Wiener Bezirken liegt der Anteil der autofreien Mobilität bei über 80 Prozent, der niederste Wert beträgt 50 Prozent und wird im Stadtrandbezirk Liesing verzeichnet.
Jahrzehntelang war das Auto der Maßstab des Städtebaus, die Rede von der autogerechten Stadt war keine Übertreibung. Sie war das passende Modell zur funktionalistischen Stadt, entsprach der technologiezentrierten Fortschrittsgläubigkeit ebenso wie der Individualisierung der Gesellschaft. Alte Quartiere, die breiten Stadtautobahnen weichen mussten, vollgeparkte Straßen und Plätze, Suburbanisierung und Zersiedelung, der Niedergang des lokalen Kleinhandels, schlechte Luft, tödliche Unfälle ... all das wurde in Kauf genommen. Mit dem Auto zum großen Einkaufszentrum am Stadtrand zu fahren und es auf einem riesigen Parkplatz abzustellen, entsprach einem modernen Lebensstil. Beim Greißler ums Eck einzukaufen galt als so unpraktisch, teuer und antiquiert, dass diese Nahversorger*innen fast komplett aus dem Stadtbild verschwunden sind.
Obwohl nun auch die Kritik an der autogerechten Stadt bereits mehrere Jahrzehnte andauert, kann von einem klaren Bruch in den meisten Städten nicht gesprochen werden. Noch heute fließen hunderte Millionen Euro in Stadtstraßen und die Bemühungen, den Autoverkehr zurückzudrängen werden zumeist nur halbherzig verfolgt. Dabei wäre es gerade in Österreich höchst an der Zeit, einen klaren Paradigmenwechsel vorzunehmen. Das Land verzeichnet in der EU die dritthöchsten Pro-Kopf-Emissionen durch Kfz-Verkehr und in sieben Bundesländern ist der Verkehr der größte Verursacher von CO2-Emissionen.
Trotzdem ist unverkennbar, dass wir in einer Umbruchsituation leben, in der klar ist, dass der PKW »den Anforderungen einer veränderten Mobilitätskultur in den Zentren der großen Städte nur noch begrenzt« (Christoph Bernhardt) entspricht und im Hinblick auf die Klimakrise eine Abkehr von seiner Dominanz dringend notwendig ist. Typisch ist in einer solchen Phase, dass manche offensiv agieren, indem sie eingefahrene Denkmuster verlassen, neue Konzepte überlegen und umsetzen und andere so gut wie möglich versuchen, bekannte Rezepte fortzuführen und den Änderungsbedarf zu ignorieren, damit nur ja keine Unruhe aufkommt und bestehende Strukturen in Frage gestellt werden. Klarerweise tauchen in so einer Situation auch neue Player auf, drängen auf den Markt und versuchen, die Rahmenbedingungen zu ihren Gunsten zu ändern. Beim Thema Mobilität ist besonders auffällig, dass diese Player sich mit Produkten etablieren (wollen), bei denen man sich schwertut, die Innovation zu erkennen. In einer Stadt wie Wien, in der die Straßenbahn umgangssprachlich lange als die Elektrische bezeichnet wurde, E-Mobility als eine topaktuelle Entwicklung im Bereich Mobilität verkaufen zu wollen, lässt einen doch etwas verwundert zurück. Der gleiche Eindruck entsteht, wenn vom autonomen Fahren die Rede ist und man Werbebilder sieht, auf denen am Fahrersitz platzierte, lesende Personen abgebildet sind. Personen also, die etwas machen, was man in jeder Straßenbahn und U-Bahn schon immer machen konnte.
Im Schwerpunkt Mobilität und Stadtplanung blicken wir mitten in diesem Umbruch nach vorne und zurück; sehen uns die Geschichte der Fußgängerzonen (Martin Gegner) ebenso an wie die möglichen räumlichen Konsequenzen dessen, was unter der Überschrift automatisiertes Fahren verhandelt wird. Emilia Bruck betont dabei die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Zielsetzungen und adäquater Rahmenbedingungen. Dazu bietet der Schwerpunkt eine Analyse des 15-Minuten-Stadt-Konzepts durch Georgia Pozoukidou und Zoi Chatziyiannaki, das anhand des Beispiels Paris im letzten Jahr durch alle Medien gegangen ist, und zeigt in einem Artikel von Barbara Laa et al. strukturelle Barrieren der Mobilitätswende sowie mögliche Lösungen auf.
Im Magazinteil dieser Ausgabe geht es einmal um die Demokratiearmut in urbanen Gesellschaften und im zweiten Beitrag um die Obsoleszenz baulicher Strukturen. Nimmt man das Wahlrecht als Maßstab, hat die demokratische Verfasstheit unserer Städte in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen. In Wien hat sich der Prozentsatz der Stadtbewohner*innen, die nicht wählen dürfen, in den letzten zwei Jahrzehnten verdoppelt. Ein unhaltbarer Zustand, der viel mit sozialer Ungleichheit zu tun hat, wie Tamara Ehs und Martina Zandonella in ihrem Beitrag ausführen.
Die oben erwähnten Stadtautobahnen wurden in manchen Städten als obsolet bzw. nicht mehr tragbar erkannt und beispielsweise in Parks umgewandelt. Im Beitrag von Anamarija Batista, Julia Siedle und Sabine Tastel geht es um den Umgang mit Gebäudetypen und baulichen Strukturen, die ihre Funktion eingebüßt haben und den Umgang damit. Besonders wichtig ist ihnen, diese rechtzeitig als Ressourcen der Stadt zu erkennen und zu sichern, sowie durch Transformation ins Positive zu wenden.
Neben einer Reihe von aktuellen Besprechungen gibt es als Abschluss des Heftes einen Diskussionsbeitrag von Ernst Gruber zu den in Wien neu entstehenden so genannten Ankerzentren. Dieser besteht in einem Entwurf für diese neuen sozialen und kulturellen Räume in den Wiener Stadtquartieren und schließt damit an unsere Auseinandersetzung mit demokratischen Räumen in der vorletzten Ausgabe an.
Zum Abschluss kann ich verkünden: das urbanize Festival wird dieses Jahr vom 6. bis 10. Oktober in Wien stattfinden und sich mit der Frage nach Strategien für den Wandel beschäftigen.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.