Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Die KPÖ Graz, die vor allem durch ihre soziale Wohnungspolitik bekannt ist, erreicht bei den Gemeinderatswahlen in Graz 28 Prozent der Stimmen und wird damit stärkste Partei. Bei dem von der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen erreichten Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne stimmen 56 Prozent für die Enteignung. Den habiTAT-Haus­projekten in Österreich ist es in den letzten Jahren gelungen, mehrere Millionen Euro an Direktkrediten zu bekommen, um Häuser zu bauen oder zu kaufen und damit Wohn- und Arbeitsraum zu schaffen, der dauerhaft dem Immobilienmarkt entzogen ist und zu günstigen Mieten zur Verfügung steht. Drei völlig unterschiedliche Wege, sich mit Wohnpolitik auseinanderzusetzen, dreimal das Ziel, Wohnraum der spekulativen Verwertung zu entziehen und Wohnen wieder leistbar zu machen. Was macht gerade diese drei Strategien erfolgreich?
        Ist es das Thema Wohnen, weil hier für jede und jeden offensichtlich wird, dass ein System, das darauf beruht, alles als Ware zu behandeln, nicht funktioniert? Ist es die jahrelange, konsequente Arbeit, die alle drei oben Erwähnten auszeichnet? Ist es der richtige Zeitpunkt, eine günstige (partei)politische Konstellation? Die richtige Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse? Ist es die Professionalität der Öffentlichkeitsarbeit? Sind das überzeugend auftretende und sympathisch wirkende Personen, die für die Sache einstehen?
        Strategien des Wandels ist der Schwerpunkt dieser Ausgabe. Er widmet sich weniger der Transformationsforschung, sondern bringt Beispiele und Ansätze von Parteien, Bewegungen, Initiativen und Institutionen, die gesellschaftliche Änderungen zu erreichen such(t)en. Das inhaltliche Spektrum umfasst ein Stadtteilzentrum genauso wie den Versuch, eine Alternative zur Wachstumsgesellschaft zu entwickeln. Wie jedes Jahr ist die Herbstausgabe inhaltlich mit dem jeweils im Oktober stattfindenden urbanize!-Festival verknüpft. So hat es sich für diesen Schwerpunkt angeboten, Brigitte Felderer, Leiterin unseres langjährigen Kooperationspartners Social Design, einem Masterstudium der Universität für angewandte Kunst Wien, zu fragen, wie sie die Rolle von Universitäten in diesem Kontext sieht, was sie vorantreiben und auszulösen vermögen. Felderer schreibt über die Bedingtheiten universitärer Strukturen, soziale Bewegungen anzustoßen, mitzutragen und Universitäten als Freiräume aufzumachen. Die Initiative Degrowth Vienna hat das große Ziel einer solidarischen Postwachstumsstadt vor Augen. Welche Strategien es braucht, die dafür notwendige sozial-ökologische Transformationen auf Schiene zu bringen, ist Thema eines Prozesses, über den sie für diesen Schwerpunkt einen Artikel verfasst hat.
        Prendiamoci la città – Nehmen wir uns die Stadt nannte sich ein Programm, das die italienische Partei Lotta Continua Anfang der 1970er Jahre entwickelt hat. Uns interessiert es nicht zuletzt deswegen, weil es – ohne direkt darauf Bezug zu nehmen – die Forderung nach einem Recht auf Stadt in die Tat umzusetzen versuchte. Marvi Maggio, die selbst in einer Studierendengruppe von Lotta Continua aktiv war, stellt das damalige Programm vor. Das Ziel ›Recht auf Stadt‹ verfolgt auch das argentinische Movimiento de Ocupantes e Inquilinos (MOI, dt. Bewegung der Besetzenden und Mietenden), wenn auch weniger konfrontativ als Lotta Continua und stärker konzentriert auf Wohnraumversorgung. Das MOI nahm an partizipativen runden Tischen mit Abgeordneten des Stadtparlaments teil und konnte gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen erreichen, dass ein Gesetz für selbstverwalteten Wohnbau und ein darauf aufbauendes Wohnbauprogramm erlassen wurde. Transformation von unten gestalten lautet schließlich der Titel eines Beitrags von Martina Nies und Björn Ahaus über ein Stadtteilzentrum in Essen. Fachgeschäft für Stadtwandel nennt sich dieser Raum, der »Selbstwirksamkeit erfahrbar macht und Möglichkeiten für Kooperation und Kollaboration bietet«.
        Im Magazinteil führt uns ein Artikel von Stephan Lanz ein weiteres Mal nach Südamerika, diesmal nach Brasilien. Der Text ist ein Vorabdruck aus einem im November erscheinenden Buch von Stephan Lanz und berichtet über die kollektiven Anstrengungen von Initiativen in den Favelas von Rio de Janeiro, die Folgen des Unwillens des Staates, die Covid-Krise zu bewältigen, abzufedern. Ursula Probst hat mit Katarina Petter, der Leiterin von Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich, ein Interview geführt, in dem es unter anderem um die Relevanz, die Rolle, neue Konzepte und Konstellationen sowie Vermittlungsarbeit von Kunst im öffentlichen Raum geht. In Folge der Präsentation der Idee einer neuen Markthalle beim Wiener Naschmarkt durch die Stadträtin Ulli Sima ist eine heftige Debatte um die Themen Partizipation, Grünraum, Klimakrise und Stadtbild aufgeflammt, die nicht so schnell verschwinden wird, wie sich das die Wiener Stadtregierung wohl wünscht. Überraschend, wie wenig die Zeichen der Zeit von der Politik erkannt werden und wie veraltet und überheblich ihre Vorstellung von Partizipation ist. Manfred Russo steuert in seinem Beitrag Fressmeile oder zivile Raumwerdung den stadtgeschichtlichen Hintergrund zur Debatte bei. Das Kunstinsert of cities and private living rooms stammt diesmal von Huda Takriti und entspringt der Recherche ihrer Familiengeschichte, verschränkt mit Migrations- und Diasporageschichte, Identität und Repräsentation, zwischen Fiktion und Realität.         Wie schon erwähnt, erscheint dieses Heft parallel zum urbanize!-Festival, auf das wir uns dieses Jahr besonders freuen, weil es anders als letztes Jahr wieder eine Festival­zentrale geben wird. Neben dem umfangreichen Programm, nachzulesen auf www.urbanize.at, wird es also wieder die Möglichkeit geben, Gehörtes und Gesehenes nach den Veranstaltungen gemeinsam zu reflektieren und diskutieren.

Wir freuen uns auf Ihr/euer Kommen Christoph Laimer


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