Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Normal – Direkter Urbanismus x 4 heißt ein Projekt, das transparadiso, das sind Barbara Holub und Paul Rajakovics, im Rahmen von Graz Kulturjahr 2020 umgesetzt haben. Das Kulturjahr war für sie »eine außergewöhnliche Chance, um relevante Themen von Stadtentwicklung an den Rändern, in ›peri-urbanen‹ Räumen, zu behandeln, die – obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in solchen Räumen lebt – kaum im Planungsinteresse liegen«. Barbara Holub und Paul Rajakovics sind seit vielen Jahren für das Kunstinsert in dérive redaktionell verantwortlich und arbeiten im Kunst- und Architekturkontext an urbanen Themenstellungen. Zu Beginn des Projekts vor zwei Jahren (siehe dérive 79) haben die beiden einen ersten Beitrag in dérive als Vorschau auf Normal veröffentlicht. Nun, nach Abschluss des Projekts, haben wir ein ausführliches Interview zu ihrer Arbeit geführt. Transparadisos künstlerisch-urbanistische Auseinandersetzung mit der Grazer Peripherie nahmen wir zum Anlass, einen Schwerpunkt zusammenzu­stellen, der ähnliche Projekte in mehreren Städten gemeinsam vorstellt und Texte bringt, die sich der Thematik Stadtrand, Kunst und Kultur widmen.
        Das Thema Peripherie ist nur eines, das transparadiso mit Normal – Direkter Urbanismus x 4 anvisiert haben. Wie der Titel schon verrät, spielten Normalität und damit Normsetzungen und Differenz eine wichtige Rolle. Wie sieht ein ›normales‹ Leben, ein ›normales‹ Wohnen (am Stadtrand) aus und wer bestimmt, was ›normal‹ ist? Wie verhält sich die Kunst zum Unspektakulären der Normalität? Ausgelöst hat dieses Nachdenken das Motto des Grazer Kulturjahres: Wie wir zusammen leben wollen?
        Ein Autor, der sich schon viele Jahre mit dem Thema Peripherie und Kunst beschäftigt, ist der römische Kurator Giorgio des Finis. Er stellt in seinem Beitrag Die Stadt durch das Museum denken Museumskonzepte an der römischen Peripherie vor, die »als Gegenmaßnahme zum fortschreitenden Abbau des öffentlichen Raums« einen Begriff von Stadt vorschlagen, der »das ›Leben‹ in den Mittelpunkt stellt, das urbane Ökosystem als Gemeingut betrachtet und gegen die Idee einer Stadt kämpft, die nur der Ausbeutung und dem Profit dient«. Das reicht vom Museo delle periferie (RIF), das ein »Ort der Begegnung, der Verdichtung und Zusammenarbeit« im Stadtteil sein will, bis zum Museo dell’Altro e dell’Altrove (MAAM; dt: das Museum des Anderen und des Anderswo), das in einem besetzten Hausprojekt ansässig ist, dessen Schutz Ziel des Museums ist.
        Nach der dritten Brücke über den Bosporus und dem neuen Flughafen von Istanbul ist der Istanbul-Kanal das nächste Megaprojekt, das Recep Tayyip Erdoğan gegen alle vor allem ökologischen Bedenken in Istanbul umsetzen will. Der Künstler Serkan Taycan hat bei der Istanbul Biennale 2013 das künstlerische Projekt Between Two Seas gestartet, das eine Wanderung entlang der 60 km langen prognostizierten Strecke des Kanals umfasst, um den Teilnehmer*innen diese bei vielen Stadtbewohner*innen wenig bekannte Region in der Peripherie von Istanbul nahezubringen. »In diesem Sinne ist das Gehen eine Suche nach Wissen, ein Akt der Solidarität und ein Akt des Widerstands«, schreiben die beiden Architekturwissenschaftlerinnen Ipek Türeli und Meltem Al in ihrem Beitrag über Taycans Projekt.
        Die Ungleichbehandlung von Zentrum und Peripherie, was die Versorgung mit Kultureinrichtungen anbelangt, reicht im Osten Deutschlands in die Zeiten der DDR zurück. Zwar fehlte es selten an großen Plänen, zur Umsetzung kam es jedoch zumeist nicht. »Wie in den Neustädten Schwedt, Hoyerswerda oder Hellersdorf wurden auch in Halle-Neustadt keine prägnanten Kulturbauten realisiert, allerdings die damals größte Kaufhalle der DDR«, schreibt der Berliner Autor und Kurator Jochen Becker in seinem Beitrag, der diesen Mangel bis in die Gegenwart diagnostiziert. Beckers Text pendelt zwischen Einblicken in die Planung der Großsiedlungen der DDR, der künstlerischen Auseinandersetzung mit ebendiesen nach Ende der DDR und einem Hinweis auf die station urbaner kulturen, einem aktuellen diskursiven Veranstaltungs- und Ausstellungsraum im Berliner (Rand-)Bezirk Hellersdorf, an dem er beteiligt ist.
        Im Magazinteil setzt Ursula Maria Probst mit ihrer Interviewserie zur Kunst im öffentlichen Raum fort. Für diese Ausgabe hat sie mit Cornelia Offergeld, der neuen Kuratorin von KÖR Wien, über soziale Verantwortung in der Kunst, Individualität und Kollektivität, Stadtgeschichte, Migration und Nachbarschaft und selbstverständlich über ihre kommenden Themenschwerpunkte gesprochen.
        Der zweite Beitrag des Magazinteils kommt noch einmal zurück nach Graz und erinnert uns an ein wegweisendes Hausprojekt, das gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Wohnen im Gemeindebau ermöglicht hat. Es handelt sich dabei um das 1987 eröffnete Haus für Studenten am Grazer Lendplatz, das über drei Jahrzehnte von Student*innen selbstorganisiert bewohnt wurde. Jomo Ruderer hat sich im Zuge seiner Diplomarbeit nicht nur mit der Geschichte des Objekts beschäftigt, sondern auch über neue Nutzungsmodelle nachgedacht.
        Für das Kunstinsert dieser Ausgabe kombiniert die in Paris lebende Künstlerin Tiphaine Calmettes Bilder aus ihrem Atelier zu einem ausschnitthaften Bildatlas. »In ihren Objekten, Installationen und sozialen Ereignissen«, schreibt Andreas Fogarasi in seinem Text zum Insert, »provoziert [sie] Entropie und Kontrollverlust und beweist dennoch eine große Sensibilität für die Möglichkeiten künstlerischer Form«.

        Eine anregende Lektüre wünscht
        Christoph Laimer


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