Editorial dérive 88
Ursprünglich hatten wir geplant, die Sommerausgabe dem Thema ›rechte Raumnahme‹ zu widmen. Die Coronademos, die Samstag für Samstag über Monate hinweg manchmal zigtausende Menschen veranlassten, sich auf den Straßen Wiens zu versammeln, waren ebenso unerwartete wie verstörende Ereignisse. Unerwartet vor allem deswegen, weil es abgesehen von mehr als überschaubaren Demonstrationen aus dem Dunstkreis der FPÖ oder von den Identitären in den letzten Jahrzehnten (in Wien) keinerlei nennenswerte rechte Präsenz auf der Straße gab. Verstörend, weil die Zusammensetzung der Protestierenden von seltsamen ›linken‹ Gruppierungen, ›alternativen‹ Esoteriker*innen über christliche Fundamentalist*innen bis zu Nazis und Faschist*innen zumindest auf den ersten Blick doch überrascht hat. Als am 24. Februar Russland die Ukraine überfiel, hat das Thema rechte Raumnahme dann noch einmal eine ganz andere Dimension bekommen. Die Konzeption des Schwerpunkts hat sich deswegen verschoben. Das vorliegende Heft widmet sich vorrangig der Ukraine, und zwar nicht dem aktuellen Kriegsgeschehen, darüber war und ist täglich mehr als genug zu lesen und zu hören, sondern ukrainischen Städten und der ukrainischen Gesellschaft.
Ganz sind wir dem Ursprungsthema allerdings nicht untreu geworden. Daniel Mullis und Paul Zschokke haben einen Artikel über Rechte Raumnahme und performative Politik in Freiberg geschrieben, weil sich an diesem Beispiel besonders gut zeigen lässt, wie sich neue organisatorische und politische Strukturen bilden und was, angefangen von der Selbstverharmlosung der Teilnehmer*innen als ›besorgte Bürger‹ bis zur Sehnsucht nach Aufgehobenheit und Anerkennung in einer sich widerständig gerierenden Gemeinschaft, zentrale Kennzeichen der Bewegung sind.
Die Ukraine und ihre Städte haben in dérive bisher leider, so müssen wir eingestehen, keinerlei Rolle gespielt. Dass wir mit dieser Ignoranz nicht alleine dastehen, macht die Sache nicht besser. Am Beginn der Zusammenstellung des Schwerpunkts stand ein Vortrag der ukrainischen Architektin und Architekturhistorikerin Ievgniia Gubkina. Auf Einladung von IG Architektur and Claiming*Spaces/TU Wien sprach sie Anfang April in Wien über Ukrainian heritage of leftist urbanism under Russian threat. Für dérive hat sie ihr Vortragsmanuskript überarbeitet und wir haben es für diese Ausgabe übersetzt. Im Zentrum des Artikels steht die Moderne der Zwischenkriegszeit inklusive des sowjet-ukrainischen Konstruktivismus in Charkiw und die Gefahr, die diesem Erbe im aktuellen Krieg droht.
Ein weiterer Artikel basiert auf einem jüngst in Wien gehaltenen Vortrag. Emily Channell-Justice, Direktorin des Temerty Contemporary Ukraine Program an der Harvard University, referierte am IWM (Institut für die Wissenschaften vom Menschen) über ›Self-Organization‹ as Ukraine’s New Culture of Civic Engagement. Den Ausgangspunkt dieser neuen Kultur der Selbstorganisation sieht sie vor allem in der Euromaidan-
Bewegung 2013/14 verankert, die für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU demonstrierte. Selbstorganisation in der Ukraine ist auch Thema des kommenden Buches von Channell-Justice.
Wenn es einen Platz in der Ukraine gibt, den fast jede*r kennt, dann ist das der Maidan in Kyjiw, wo die erwähnten Proteste stattgefunden haben. Ganz in der Nähe des Maidan befindet sich der Mariinsky-Park. Auch er hat bei Euromaidan eine Rolle gespielt, nämlich als Sammelpunkt des ›Anti-Maidan‹ und als Ort, an dem Anhänger*innen des Euromaidan verletzt und getötet wurden. Autor des Artikels, der die historische Entwicklung des Parks zu einem politischen Raum und das komplexe Zusammenspiel von Macht und Gesellschaft bei der Gestaltung einer Stadtlandschaft nachzeichnet, ist Serhy Yekelchyk, der am Rande des Mariinsky-Parks aufwuchs und heute Professor für Geschichte und Slawistik an der University of Victoria in Kanada ist.
Auch wenn Russland schon seit 2014 die territoriale Integrität der Ukraine missachtet und im Osten des Landes kriegerische Handlungen gesetzt hat, rechnete wohl niemand mit einem solch umfassenden Krieg Russlands gegen die Ukraine, wie er nun seit über vier Monaten tobt. Warum niemand damit gerechnet hat, überrascht allerdings doch ein wenig, liest man Aussagen Putins über die Ukraine aus den letzten Jahren und sieht man sich an, welchen ideologischen Einflüssen er sich geöffnet hat. Einer von ihnen ist der 1954 in der Schweiz
verstorbene, faschistische russische Philosoph Iwan Iljin, den Putin verehrt und immer wieder gerne zitiert. Timothy Snyder, bekannter Experte für u. a. die russische und die ukrainische Geschichte, hat 2018 einen Text über Iljins Ideologie und deren Fan Wladimir Putin geschrieben, den wir hier in der von Eurozine veröffentlichten deutschen Übersetzung nachdrucken, weil er einiges zum Verständnis der Situation beiträgt. Trigger warning: Hoffnung im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Verhältnisse schöpft man nach der Lektüre keine.
Gerne hätten wir noch mehr Beiträge über die Ukraine untergebracht, aber die Zeit war knapp und der Platz im Heft ist es ebenso. Wir verweisen auf die am 9. Juli beginnende Ausstellung What can be done? Praktiken der Solidarität im öffentlichen Raum von Traiskirchen, an der auch ukrainische Künstler*innen beteiligt sind. Wir empfehlen das Veranstaltungsprogramm des IWM (iwm.at/upcoming-events) im Auge zu behalten und beispielsweise das ukrainische Netzwerk
Operation Solidarity (operation-solidarity.org) oder die Wiener Initiative Office Ukraine. Shelter for Ukrainian Artists (artistshelp-ukraine.at) zu unterstützen.
Im Magazinteil gibt es neben dem schon erwähnten Text zu rechter Raumnahme ein weiteres Interview von Ursula Maria Probst in ihrer Serie zu Kunst im öffentlichen Raum bzw. zu öffentlicher Kunst. Auskunft gibt diesmal Gerrit Gohlke von der in mehreren europäischen Ländern aktiven Initiative Neue Auftraggeber. Oliver Ressler macht uns in seinem Kunstinsert Carbon and Captivity auf die Methode Carbon Capture and Storage aufmerksam, von der er befürchtet, dass sie sich zu einem »internationalen Flaggschiff des Greenwashing fossiler Energie« entwickeln könnte.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.