Editorial dérive 89
Das Zentrum historischer europäischer Städte ist traditionell der Ort weltlicher und religiöser Macht ebenso wie der großen Kultur- und Bildungseinrichtungen. Ein starkes Bevölkerungswachstum im Zuge der Industrialisierung und die Eingemeindung von Vororten führte, die Grenzen der mittelalterlichen Stadt sprengend, im 19. und 20. Jahrhundert zu einer starken, oft konzentrischen räumlichen Ausdehnung. Leistungsstarke öffentliche Verkehrsmittel und speziell die Verbreitung des Autos erlaubten es, die Funktionen in der Stadt zu trennen und zu bündeln, was zur Folge hatte, dass immer längere Strecken zu überwinden waren, um zur Arbeit, zu Orten für Freizeit, zu Geschäften zu kommen. Die Gegenbewegung war die Stadt der kurzen Wege, die heute als 15-Minuten-Stadt in neuer Form Schlagzeilen macht und auf polyzentralen Strukturen basiert. Sie soll es möglich machen, viele alltägliche Wege zu Fuß, mit dem Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln in kurzer Zeit zu erreichen und damit den motorisierten Individualverkehr eindämmen. Dadurch sinkt der CO2-Ausstoß, wird Straßenraum frei und kann vielfältiger genutzt werden. Lärm und schlechte Luft werden reduziert, es entsteht Platz für mehr Grün, wodurch Hitzeinseln verschwinden.
Der Einwand, dass es weiterhin viele Menschen geben wird, die nicht ums Eck arbeiten, sondern sich mehr als 15 Minuten durch die Stadt bewegen werden müssen, stimmt natürlich ebenso wie die Gefahr einer ›green gentrification‹ besteht, weil in attraktiven Gegenden höhere Mieten verlangt werden können. Eine mögliche Verdörflichung der Stadt fassen zumindest wir bei dérive auch eher als eine Bedrohung denn als einen Grund zur Freude auf.
Ansätze wie in Barcelona und Valencia, wo versucht wird, mit sehr einfachen Mitteln in kurzer Zeit viele Superblocks und Plätze zu transformieren, um über die ganze Stadt verteilt Verbesserungen zu schaffen, ist auch ein Versuch, einerseits Gentrifizierung zu verhindern und andererseits durch das Überangebot keine neuen singulären touristischen Attraktionen zu schaffen. Ob das gelingen kann, wird sich zeigen. Ohne starkes Mietrecht und regulatorische Eingriffe in den Boden- und Immobilienmarkt wird es wohl eher nicht funktionieren.
In der vorliegenden Ausgabe von dérive werfen wir einen kritischen Blick auf die breit diskutierten Projekte in Barcelona und Paris. Wir veröffentlichen Simon de Boecks ausführlichen Beitrag Barcelonas Superblocks und die Rückgewinnung des öffentlichen Raums, für den er sich die Konzepte und die ersten Umsetzungen in Barcelona auch im Vergleich zur Pariser 15-Minuten-Stadt detailliert angesehen hat.
Um bauliche Transformationsprozesse im Geiste einer sozial- und klimagerechten Stadtentwicklung geht es auch in einem Artikel von Katharina Kirsch-Soriano da Silva über ein Wiener Nachverdichtungsbeispiel, in dem sie die unmittelbaren Veränderungen für die alltäglichen Lebenswelten von länger ansässigen Bewohner*innen in den Fokus nimmt, die solchen Eingriffen oft kritisch gegenüberstehen.
Das Potenzial von polyzentralen Strukturen im Zusammenhang mit Bildungs- und Kulturzentren erkundet ein Text über gemeinschaftsorientierte Bildungsnahversorgung nach 1945 in Wien, den Carina Sacher und Lukas Vejnik verfasst haben.
Selbstverständlich betrachtet die aktuelle Ausgabe von dérive das Konzept der Polyzentralität auch historisch und beleuchtet den unmittelbaren, aktuellen Diskurs dazu. Andre Krammer hat sich dieser Aufgabe angenommen und eine
kritische Evaluation des Leitbilds Polyzentralität geschrieben.
Der Magazinteil bringt einen Beitrag über zwei typische Schweizer Großwohnsiedlungen der 1950er bis 1970er Jahre in Bern bzw. Aarau. Eveline Althaus und Leonie Pock haben diese im Rahmen eines Forschungsprojekts am ETH Wohnforum untersucht und gehen in ihrem Beitrag für dérive »am Beispiel der Erneuerungsprozesse von Spielplätzen auf Veränderungen und Kontinuitäten von den Planungskonzepten bis heute ein«.
Tino Buchholz, Post-doc am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart, steuert einen Beitrag über das Format der Internationalen Bauausstellung IBA sowie seine Mängel und Möglichkeiten zwischen Baukultur und Technoplanung bei.
Im Besonderen geht es ihm dabei um »ein konflikthaftes Verständnis sozialer Raumproduktion entlang nicht endender Kämpfe um sozialräumliche Anerkennung«.
Die Interviewgäste in der dérive-Serie zu Kunst im öffentlichen Raum bzw. öffentlicher Kunst sind diesmal Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh, die als Projektgruppe Situation Berlin Teil der Initiative Urbane Praxis sind. Anliegen ist ihnen, nicht die »klassische Vorstellung von Kunst im öffentlichen Raum zu propagieren«, sondern ein operieren »an der Schnittstelle zur Stadtpolitik und aktivistischer Praxis«.
Das Kunstinsert stammt diesmal von der wohl bekanntesten tschechischen Performance-Gruppe ZTOHOVEN rund um die Künstler*innen Roman Týc, Tomáš Jasný and Matej Hajek, die für uns eine rote Unterhose über der Prager Burg wehen lassen.
Wenn diese Ausgabe erscheint, steht das 13. urbanize!-Festival vor der Tür. Mit Around the Corner: Polyzentrale Stadt-Strukturen für die ökosoziale Transformation lädt es ein, gemeinsam die Gegenwart und Zukunft der Stadt zu entwerfen. Wir freuen uns, euch zu sehen!
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.