Jerome Becker

Jerome Becker ist Doktorand an der KU Leuven und Co-Leiter von MAGAZIN - Ausstellungsraum für zeitgenössiche Architektur in Wien.

Jochen Becker

Jochen Becker ist Autor, Kurator und Dozent in Berlin. Er ist Mitbegründer von metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten.

Michael Klein

Michael Klein lebt und arbeitet in Wien. Er hat in Wien und Paris Architektur studiert und arbeitet als Lehr- und Forschungsbeauftragter an der TU Wien.

Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Wenn ein Automobilkonzern wie Mercedes, der die räumliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts ganz wesentlich mitgeprägt hat, verlauten lässt, dass die Einkommen der Zukunft nicht aus dem Verkauf von Autos resultieren werden, sondern aus 
den Daten, die diese Fahrzeuge generieren, wird etwas deutlich: Dass der Kampf um die Daten lange schon nicht mehr nur online geführt wird, sondern in der Stadt angekommen ist.
        Ging die klassische Ökonomie noch von einer Dreiteilung der Produktionsfaktoren in Kapital, Arbeit und Boden aus, die 
in den nachfolgenden (neoklassischen) Theorien noch um den Faktor Wissen ergänzt wurde, ist heute das Verständnis von Data als unverzichtbarer Produktionsfaktor im Mainstream angelangt. Welche Konsequenzen resultieren daraus für unser Zusammenleben und den Umgang mit Raum?
        Gleich vorweg: die Algorithmen, die diese schier unüberblickbaren Mengen an Daten verarbeiten, haben nicht das 
kybernetische »Zeitalter nach der Arbeit« eines »Fully Automated Luxury Communism« (Aaron Bastani) gebracht, nicht das ersehnte Land eines New Babylon, wie es Constant Nieuwnhuys noch in den 1960er herbeisehnte; sie brachten auch nicht die Architekturen einer fully automated society wie jene des Fun Palace von Cedric Price, sondern Datafarmen und Chipfabriken, generische Architekturen – dort wo das Bauland leistbar und Energie verfügbar ist. Begleitet wird die volle Automatisierung – so zeichnet es sich zumindest ab – nicht durch eine von Arbeit befreite Gesellschaft auf dem Weg zur demokratischen Selbst­erfüllung, sondern paradoxerweise von einem Heer digitaler Arbeiter:innen, die für wenige Cent in der Stunde in digitaler Handarbeit Maschinen ihr Wissen lehren oder alles das leisten, wofür komplexe Algorithmen wohl zu teuer wären. Während einige dieser Kisten bereits weitgehend personalkostenbefreit funktionieren, entsteht an anderer Stelle neue – meist prekäre – Beschäftigung statt Freizeit.
        Um die komplexen Zusammenhänge zwischen Plattformkapitalismus, dem Umgang mit Daten, der physischen Infrastruktur des Digitalen und den daraus resultierenden Verschiebungen der Raumproduktion besser zu verstehen, müssen wir uns über disziplinäre Themenfelder hinauswagen. Denn die Welt der Daten zeigt uns einmal mehr, dass die Dinge vernetzt sind.
        Mit dieser dérive-Ausgabe wollen wir uns daher dem Verhältnis von Digitalisierung und Raum in verschiedenen Maßstäben nähern, um so die vielen Verschränkungen und Größenordnungen zu behandeln, in denen Daten eine mittlerweile zentrale Rolle zukommt. Eine dieser Maßstabsebenen ist die der Fabrik, auch wenn sich die heutigen digitalen Fabriken, wie sie Moritz Altenried in seinem Beitrag beschreibt, räumlich nicht mehr klar eingrenzen lassen. Von den Megafabriken bis zu den digitalen Plattformen: »Überall finden sich Formen von Organisation und Kontrolle der Arbeit, die historisch vor allem mit der disziplinären Architektur der industriellen Fabrik verbunden waren, nun aber mithilfe digitaler Technologien über ihre Mauern hinausreichen.«
        Mit dem Beitrag Work, Body, Leisure unternimmt Marina Otero Verzier gleich mehrere Maßstabssprünge (vom Territorium 
bis hin zum Bett), um so die veränderten Beziehungen zwischen Arbeit und Freizeit im Kontext von digitalen Technologien und Automatisierung in den Niederlanden zu verhandeln. Gleichzeitig eröffnet sie jedoch auch eine globale Perspektive: während Arbeit an einer Stelle verschwindet, taucht sie an einer anderen wieder auf.
        Ausgehend von einem abgewetzten Werbeplakat mit dem Slogan »Echte Autos in Deiner Nähe suchen Dich«, stellt Jochen Becker die Frage, wie autonome Fahrzeuge die Stadt wahrnehmen. Mit der Entwicklung von raumabtastender und datenverarbeitender Automobiltechnologie entsteht auch eine neue Bildpolitik die der Autor u. a. mit Anlehnungen an das Werk von Filmemacher Harun Farocki erörtert.
        Keller Easterling spricht im Interview mit dérive über Schnittstellen und Wechselwirkungen digitaler und räumlicher Welten und nimmt dabei insbesondere die damit verbundenen Ein- und Ausschlussmechanismen auf sozialer Ebene in den Fokus. Easterling formuliert auch hier wieder ihre Kritik an einer veralteten modernistischen Sichtweise, die das Neue primär 
als Überschreibung des Alten versteht und plädiert dafür, Potenziale überlieferter Systeme in »neuverschaltete« Zukunftskonzepte miteinzubeziehen.
        Helen Hester und Nick Srnicek widmen sich dem Maßstab der städtischen Wohneinheit. Die Autor:innen hinterfragen das Smart Home als digitales und vernetztes Zuhause, welches zeitintensive Hausarbeit zu reduzieren verspricht, und kontextualisieren die jüngsten Entwicklungen diverser Haushaltstechnologien in einem Abriss über die historischen Veränderungen sozialer Reproduktionsarbeit.
        Im Magazin-Teil schreiben AKT & Hermann Czech über die soziale Wirksamkeit des Raumes in Zusammenhang mit ihrem Beitrag bei der aktuellen Architekturbiennale in Venedig, Ursula Probst spricht mit Mechtild Widrich über ihre Publikation Monumental Cares und Jochen Becker diskutiert Umstrittene Methoden von Jezko Fezer.
        Vor der Sommerpause sollte unbedingt noch der Kalender für den urbanize! »Reality Check: Urban Commons« blockiert werden: Von 3. bis 8. 10. 2023 erkundet das Festival das soziale, demokratische, ökonomische und ökologische Transformations-Potenzial von Commons und Commoning im urbanen Raum. Im Zentrum stehen der Status quo der theoretischen Entwicklungen ebenso wie die Auseinandersetzung mit international gelebter Praxis. Mehr ab August auf urbanize.at.
        Unvermittelt stolperten wir – obwohl dérive in der einen oder anderen Form lange schon eng verbunden – in diesem Frühling in die Rolle einer geteilten redaktionellen Verantwortung, weil Christoph Laimer krankheitsbedingt vorübergehend aussetzen muss; daher auch die Verzögerung, mit der dérive 91 erscheint. Wir hoffen dennoch eine weitere Ausgabe mit Beiträgen zu brisanten Entwicklungen des Städtischen, mit Anspruch – und mit dem für dérive altbekannten Lesegenuss vorlegen zu können.
Alles Gute euch allen, wünschen Jerome Becker, Jochen Becker, Michael Klein und Andre Krammer


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