Editorial dérive 92/93
Regelmäßigen dérive-Leser:innen wird nicht entgangen sein, dass die Demokratisierung der urbanen Gesellschaft eines unserer wichtigsten Anliegen ist. 2017 haben wir ein Schwerpunktheft mit dem schlichten und schönen Titel Demokratie veröffentlicht, 2020 ein Heft zu Demokratischen Räumen, davor, dazwischen und danach weitere Hefte, die sich mit einzelnen Aspekten des Themas beschäftigt haben: Recht auf Stadt, Strategien des Wandels, Protest, Nachbarschaft, Pariser Commune, Stadt selber machen … Auch in der vorliegenden Doppel-Ausgabe von dérive mit dem Titel Urban Commons spielen Demokratie und Demokratisierung eine gewichtige Rolle. Seit Elinor Ostroms 2009 mit dem Nobelpreis gekrönten, grundlegenden Forschungsarbeiten zu gemeinschaftlichem Eigentum hat sich auf dem Gebiet einiges getan. Commons- Theoretiker:innen wie Praktiker:innen betonen die unabdingbare Verknüpfung zwischen genutzter materieller Ressource und dem ›Commoning‹, also dem kollektiven Herstellen, Aushandeln, Verwalten und Erhalten derselben durch die Nutzer:innen als zentrales Wesensmerkmal von Gemeingütern. Eben diese soziale Praxis beschreiben Bertie Russell und Keir Milburn in ihrem Text für diesen Schwerpunkt als »Training in Demokratie«, denn die Schaffung von Commons ist eine großartige Möglichkeit, sich niederschwellig (und implizit politisch) zu engagieren und Handlungsfähigkeit im eigenen Alltag zu erleben. Das eigene Alltagswissen, Wünsche und Anliegen sowie die in jedem Menschen schlummernden vielfachen Expertisen, finden in Commons-Projekten einen fruchtbaren Boden. Commons schaffen soziale Beziehungen und eröffnen Lernfelder für Demokratie und gegenseitige Toleranz. Ganz egal, ob es sich nun um Räume für soziale oder kulturelle Nutzungen handelt, wie sie in mehreren Kurzportraits in diesem Heft exemplarisch versammelt sind, oder um die Gestaltung des eigenen Lebensumfelds, um gemeinsame Aktivitäten für die Nachbarschaft, die Freude bringen und die Lebensqualität verbessern.
»Democracy must always be a community to come, always constituted by our ongoing struggle to manage our affairs for ourselves«, hat Mark Purcell in dérive einmal geschrieben und damit – ohne direkt darauf Bezug zu nehmen – ganz gut dargelegt, warum es auch bei Commons und Commoning geht. Die schrittweise Ausweitung von Commons- Strukturen in den Städten eröffnet eine real-utopische Möglichkeit für eine demokratischere und gerechtere Stadt. Sie verwandelt vertikale Macht in horizontale Strukturen, schafft Teilhabe und Selbstbestimmung, und erzeugt mit dem Wissen der Vielen tragfähige Lösung für die umfassenden Fragen, die sich als ökologische, soziale und ökonomische Krisen heute stellen.
Um Commons zum Erblühen zu bringen, bedürfen sie eigener Rahmenbedingungen, die den Staat in die Verantwortung nehmen. Keinesfalls können die Verantwortlichkeiten der öffentlichen Hand unter dem Euphemismus »Eigenverantwortung « an die Bürger:innen ausgelagert werden, ohne die ökonomischen und rechtlichen Voraussetzungen für Commoning zu schaffen, wie es neoliberale Governance-Modelle gerne vorsehen. Vielmehr ist eine Haltung des ›Ermöglichens‹ und der Kooperation gefragt, in der Ideen und Engagement der Bürger:innen fürs Gemeinwohl begrüsst werden und ihre autonome Umsetzung durch klare Rahmenbedingungen positiv unterstützt wird, um die großen urbanen Aufgaben gemeinsam zu stemmen.
Diese notwendigen Vereinbarungen, die eine kollektive, gemeinwohlorientierte, demokratische und klimagerechte Nutzung und Verwaltung urbaner Gemeingüter erlauben und befördern, werden in immer mehr Städten durch sogenannte Public-Common Partnerships (PCPs) geregelt. Durch sie soll Kooperation auf Augenhöhe ermöglicht werden, die garantiert, dass der urbane Reichtum allen zu Gute kommt, anstatt den Profit in Public-Private Partnerships (PPP) an wenige umzuverteilen. Vorlage für viele dieser Vereinbarungen ist Bologna, wo bereits 2014 ein Rahmenwerk für die Zusammenarbeit zwischen Kommune und Bürger:innen für die Schaffung und Verwaltung von urbanen Commons in Kraft getreten ist. Commons-Vereinbarungen existieren international für kleinteilige, soziale und kulturelle Infrastruktur ebenso wie für den öffentlichen Raum, die Energie- und Wasser- Versorgung oder die Schaffung von Wohnraum. Ihre Erforschung in Theorie und Praxis läuft auf Hochtouren und die Erkenntnisse aus der Praxis fließen laufend in die Adaptierung von Governance-Modellen ein.
Wie jedes Jahr fungiert die Herbstausgabe von dérive auch als Reader für das urbanize! Festival, das 2023 vom 3. bis 8. Oktober in Wien stattfindet. Mit Reality Check: Urban Commons lädt urbanize! zur Erkundung der Welt urbaner Gemeingüter und ihrer international bereits gelebten Praxis. Das Festival will einen Brückenschlag zwischen dem Diskurs und der Alltagsrealität in den Städten ermöglichen, die angesichts der drängenden Klimafrage und der fortschreitenden Privatisierung von Raum und Gesellschaft neue, gemeinschaftlich verwaltete Frei-, Denk- und Bewegungsräume benötigen. Als Reality Check präsentiert das Festival konkrete Ansätze für die Etablierung von Commons-Strukturen und Modelle für gemeinwohlorientierte PCPs. Einige der Autor:innen des Heftes sind auch Gäste des Festivals, womit die Möglichkeit besteht, an der urbanize! Festivalbar direkt mit ihnen zu diskutieren. Die urbanize! Festivalzentrale richtet sich in den Räumlichkeiten der Mensa der ehemaligen Wirtschaftsuniversität ein. Das Gebäude wird von der Initiative Althangrund für 4lle als Commons-Raum betrieben und urbanize! könnte sich keinen passenderen Ort für seinen Reality Check wünschen. Mehr über das Kulturzentrum 4lthangrund und ähnliche Projekte in ganz Europa, sowie zum Status quo der Urban Commons gibt es in diesem Heft und beim urbanize! Festival – live und im Livestream.
Good Read und Commons’ vorbei,
Christoph Laimer, Elke Rauth
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.
Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.