Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


        Im Grunde ist es unglaublich, aber wir haben uns daran gewöhnt: Wohnungslosigkeit und vor allem Obdachlosigkeit existiert und ist für uns alle täglich sichtbar. Klar, wir spenden – bevorzugt zu Weihnachten – ein paar Euro an Hilfsorganisationen, haben ein schlechtes Gewissen verbunden mit einer gefühlten Hilflosigkeit, wenn wir obdachlose Menschen sehen, und selbst sehr wohl ein Dach über dem Kopf haben. Nur nutzt das schlechte Gewissen leider niemandem etwas. Fakt ist: In einer der reichsten Gesellschaften der Welt gibt es tausende Menschen, die über kein gesichertes Zuhause verfügen. Sie haben keinen Ort, der Schutz vor Kälte, Nässe oder Gewalt bietet. Keinen persönlichen Rückzugsort, den sie individuell gestalten können. Keinen Raum, der die persönlichen Dinge des Lebens beherbergt, in den sie Freund:innen einladen und soziale Beziehungen pflegen können. Da durch die anwachsenden Wohnungskrisen in den europäischen Städten immer mehr Menschen von Wohnungsarmut bis zur Obdachlosigkeit betroffen sind, haben sich die EU-Staaten in der Lissabonner Erklärung das Ziel gesetzt, Wohnungs- und Obdachlosigkeit nachhaltig zu bekämpfen und bis 2030 zu beenden. dérive-Redakteur Erik Meinharter hat die Erklärung zum Anlass genommen, diesen Schwerpunkt zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit mit Fokus auf Lösungsmodelle redaktionell zu gestalten.
        Ein wenig ungläubig ob der ungewohnt weitreichenden Vorhaben der Erklärung, haben wir zwei Expertinnen, Mara Verlič, Soziologin und Referentin in der kommunalpolitischen Abteilung der Arbeiterkammer Wien, und Daniela Unterholzner, Geschäftsführerin der Wiener NGO neunerhaus gefragt, wie es um Maßnahmen zur Erreichung der Ziele steht, und was die wichtigsten Schritte dafür sein müssen.
        Eine der zentralen Maßnahmen zur Umsetzung des Ziels ist das Modell Housing First. In Wien wird es seit rund zehn Jahren in Projekten umgesetzt, mit durchgehend positiven Erfahrungen. Wie die aktuelle Situation in Österreich genau aussieht, vor allem auch was Housing First anbelangt, analysieren Elisabeth Hammer und Christian Zahrhuber, beide aktiv im Dachverband Bundesgemeinschaft Wohnungslosenhilfe – BAWO.
        Das vorliegende Schwerpunktheft blickt in drei weitere europäische Länder mit jeweils deutlich unterschiedlicher Lage: Finnland zählt innerhalb Europas zu den Staaten, die auf dem Weg zur Beendigung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit am weitesten sind. Die Architektin und Stadtforscherin Johanna Lilius schreibt in ihrem Beitrag Getting out of homelessness and into homes in Finland über die Erfolge, die schon erzielt worden sind, aber auch über die Hürden, die es noch zu überwinden gilt. Zu denen zählt – und da ähnelt die Situation in Finnland allen anderen Beispielen – die fehlende Leistbarkeit von Wohnraum.
        Intensive Bemühungen, Housing First zur zentralen Maßnahme gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu machen, gibt es auch in Barcelona. Aber auch hier scheitern viele Vorhaben am nicht existenten Wohnraum, der dafür zur Verfügung stehen könnte. Der Politikwissenschaftler Albert Sales berichtet in seinem Beitrag Herausforderungen einer komplexen Krise über den »historischen Mangel« an sozialem Wohnbau in Barcelona, und fordert daher umso mehr eine Beteiligung von privaten und gewerblichen Eigentümer:innen an Housing-First-Projekten.
        Enorm schwierig ist die Situation für obdach- und wohnungslose Menschen in Ungarn. Nicht nur wird das Problem von der ungarischen Regierung ignoriert und werden vor allem Obdachlose kriminalisiert; auch das völlige Fehlen eines adäquaten Mieter:innenschutzes trägt zur dramatischen Situation bei. dérive-Redakteurin Elke Rauth hat darüber mit Lenke Pálfi, Aktivistin der From Streets to Homes Association gesprochen, die trotz schwierigster Umstände und starkem politischen Gegenwind der Orban-Regierung versucht, das Housing-First-Modell in Budapest zu etablieren.
        Kurz vor Erscheinen dieses Heftes wurde eine Gesetzesvorlage eingebracht, die eine umfassende Überwachung von NGOs, die Fördermittel aus dem Ausland beziehen, zum Ziel hat – das gilt auch für EU-Fördermittel. Eine bedrohliche Verschärfung für alle, die sich nicht dem Orban-Regime unterwerfen, falls das Parlament das Gesetz beschließt.
        Leistbarer Wohnraum als gesellschaftliche Herausforderung ist der Titel des Beitrags von Gerald Kössl, Referent beim österreichischen Verband gemeinnütziger Bauvereinigungen. Darin analysiert er die aktuelle Situation und die Entwicklung der letzten Jahre, die auch in Österreich dazu geführt haben, dass Wohnkosten ein brisantes Thema geworden sind – inklusive aller »sozialen Folgen der Leistbarkeitskrise«.
        Die Soziolog:innen Christoph Reinprecht und Irina Kachapova sehen in ihrem Artikel Housing First ebenfalls als einen wichtigen Beitrag, plädieren allerdings dafür, einen Schritt weiter zu gehen und Wohnungslosigkeit als »generalisiertes Risiko« anzuerkennen, das ähnlich wie Arbeitslosigkeit jede:n treffen kann.
        Einen ganz persönlichen Einblick in das Leben in Wohnungslosigkeit gibt uns Christopher Labenbacher in seinem Text Mein Zuhause. Auch viele der Fotos für diesen Schwerpunkt zeigen Perspektiven auf die Stadt von obdach- und wohnungslosen sowie armutsbetroffenen Menschen, die als Gäste des neunerhaus-Cafés an einem Workshop teilgenommen haben.
        Das Kunstinsert hat die britische Künstlerin Avril Corroon für diese Ausgabe gestaltet, in dem sie sich mit dem Problem der Feuchtigkeit in Wohnungen und der Erfahrung von Prekarität auseinandersetzt. Im Interview mit Ursula Maria Probst spricht der Künstler Oscar Cueto über die Bedeutung, die öffentliche Räume als »demokratische Spielräume« und Orte der Begegnung in seiner Arbeit zwischen Mexiko-Stadt und Wien haben.
        Angesichts der aktuellen politischen Lage und all dem, was uns 2024 vielleicht bevorsteht, ein gutes neues Jahr zu wünschen, soll nicht zynisch klingen – die Welt hat Gutes bitter nötig.

Christoph Laimer


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