Editorial dérive 95
170.000 Einwohner hatte Venedig in den frühen 1950er Jahren, heute sind es weniger als 50.000 und die Zahl sinkt laufend weiter. Wird in der Stadt eine Wohnung frei, geht sie im Normalfall über Plattformen temporär an Tourist:innen, weil das viel einträglicher ist, als sie regulär und langfristig als Wohnraum zu vermieten. Ähnliches passiert zusehends auch mit Gewerberäumen, Werkstätten und anderen Räumen in den Erdgeschosszonen. Sie für Ausstellungszwecke an Teilnehmer:innen der Biennale zu vermieten, ist lukrativer als ihre bisherige Nutzung beizubehalten. Angesichts dieser Raumnahmen beschlossen AKT & Hermann Czech im Rahmen ihrer Kuratierung des Österreichischen Pavillons für die Architektur-Biennale 2023, Raum zumindest vorübergehend an die Bevölkerung Venedigs zurückzugeben. Eine scheinbar einfache Idee mit interessanten politischen Implikationen, die einiges an Staub aufwirbelte. Das Konzept haben AKT & Hermann Czech bereits 2023 in dérive Nr. 91 vorgestellt. Jetzt, nach Abschluss der Biennale, haben wir einige Team-Mitglieder zum Interview gebeten, um rückblickend über ihren Beitrag Participazione, Reaktionen und Erkenntnisse zu reflektieren.
Auch drei weitere Beiträge des Hefts gehen unmittelbar auf Participazione zurück, war es AKT & Hermann Czech doch ein Anliegen, ihr Biennale-Programm in enger Kooperation mit engagierten Menschen und Organisationen vor Ort zu gestalten: Dazu zählt OCIO, eine Initiative, die auf die fortschreitende Wohnungskrise und die damit verbundene Abwanderung der Bevölkerung Venedigs aufmerksam macht und auf Regulierung drängt, um Venedig nicht komplett zu einem Freilichtmuseum werden zu lassen. Eine weiteres Interview gibt es mit Luca Zan, Professor für Kunstmanagement, der sich in mehreren Publikationen mit Venedigs Arsenale auseinandergesetzt hat, das seit Jahren in weiten Teilen exklusiv von der Biennale verwendet wird. Zan setzt sich lautstark für dessen Öffnung ein. Alessandro Sibilla wiederum ist Leiter eines Vereins, der sich für das soziale und kulturelle Leben im Quartier Sant’Elena engagiert, das neben den ebenfalls exklusiv von der Biennale genutzten Giardini liegt. In den Gesprächen zeigt sich, wie wenig das Direktorium der Biennale an Dialog und Diskussion interessiert ist und wie sehr ein reibungsloser, höchst profitabler Betrieb im Vordergrund steht. Die Interessen der Bevölkerung Venedigs müssen hinter der Optimierung der Tourismusmaschinerie zurückstehen.
Im Gegensatz zu Venedig ist Overtourism für Buenos Aires nicht das größte Problem, schon gar nicht aktuell unter dem neuen Präsidenten Javier Milei. In der vorliegenden Ausgabe stellt Markus Vogl fünf soziale Koproduktions-Projekte in der Stadt vor, »die über die Schaffung von ›bien comúnes‹ (Gemeingütern) ›espacios comúnes‹ (Allmenderäume) gestaltet haben« und damit das urbane Alltagsleben prägen. Die Beispiele reichen von einer Recycling-Genossenschaft über eine Bibliothek und ein Netzwerk von Lebensmittelproduzent:innen bis zu einem Wohnprojekt und einer selbstverwalteten Druckerei.
Andre Krammer und Johannes Bretschneider greifen in ihrem Beitrag Auslagern, Einlagern, Verlagern – Raumpraktiken im äußeren Stadtraum die Debatte um das Verhältnis von Stadt, Territorium und Hinterland auf und verwenden die Wiener Stadtränder als exemplarisches Beispiel dafür. Sie sind »im kollektiven Bewusstsein immer noch ›randständig‹, während sie durch Praktiken des Aus-, Ein- und Verlagerns zunehmend überformt werden und ihre Potenzialräume verlieren«.
Nihad El-Kayed, Christian Haid und Lukas Staudinger haben ein Jahr lang in der in den 1970er Jahren errichteten Cottbuser Plattenbausiedlung Sachsendorf ein Projekt betrieben, dessen Ziel es war, die unterschiedlichen, vielfach durch Einwanderungs- und Fluchterfahrungen geprägten Bevölkerungsgruppen »in einen multiperspektivischen Dialog auf Augenhöhe zu bringen«. In ihrem Beitrag geben sie Einblick in Konzept und Ablauf ihres Projekts MIKRO und werfen einen Blick auf die generellen Potenziale und Problemstellungen solchgestalter Vorhaben.
Für die Interviewserie zur Kunst im öffentlichen Raum hat Ursula Maria Probst diesmal Irene Lucas und Christoph Euler zum Gespräch gebeten. Die beiden agieren im Feld der New Urban Ecologies, setzen stark auf kollektive Ansätze, das Schaffen von öko-sozialen Infrastrukturen, Vernetzung und Aktivierungen des öffentlichen Raums.
Fünf Wochen beobachtete und verzeichnete der Wiener Künstler Nikolaus Gansterer die extremen Wechsel der Atmosphären und Stimmungen in einer leerstehenden Eisfabrik in der Wüste in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sein Kunstinsert für diese Ausgabe zeigt Bilder der in Folge entstandenen Installation.
Das blutige Massaker am 7. Oktober letzten Jahres durch die Terrororganisation Hamas war natürlich auch für uns ein Schock. Nichts rechtfertigt so eine Wahnsinnstat und sie als »armed resistance« zu bezeichnen, wie das zuletzt Judith Butler getan hat, ist ebenso abscheulich wie inakzeptabel. Dass gerade im Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsbereich die Verharmlosung dieser unfassbaren Tat verbreitet ist und, so scheint es zumindest, immer weiter zunimmt, ist Anlass für uns, »eine Abrechnung mit den schockierenden Reaktionen der globalen Linken auf das Massaker vom 7. Oktober« von der US-amerikanischen Professorin für Journalismus, Susie Linfield, aus der gerade in Zeiten wie diesen äußerst wichtigen Berliner Wochenzeitung Jungle World nachzudrucken. Der (isolierte) Abdruck des Artikels ist in unserer Redaktion nicht ganz unumstritten, weil es auch andere Meinungen bezüglich des redaktionellen Umgangs mit dem Konflikt gibt. Die Mehrheit hat sich jedoch für die Veröffentlichung entschieden. Unumstritten ist selbstverständlich auch für uns, dass der Krieg in Gaza und das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ein Ende finden müssen. Die Appelle dafür sind aber nicht nur an Israel, sondern ebenso an die Hamas zu richten. Sie hat es in der Hand, durch die bedingungslose Freilassung aller Geiseln einen großen Schritt in Richtung Frieden zu machen.
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.