Editorial dérive 98
Letztes Jahr haben wir ein Heft über Urban Commons veröffentlicht, nun legen wir eines zum Thema Eigentum vor, das sich mit einigen wichtigen Aspekten dieses breit gefächerten Themas befasst und mit der Geschichte der Commons aufs Engste verknüpft ist. Der Ursprung des modernen Privateigentums an Produktionsmitteln, über den ein Artikel von Sabine Nuss in diesem Schwerpunkt zu lesen ist, liegt in der »Vertreibung der Menschen aus ihren tradierten Produktionsverhältnissen«. Damit einher ging die Privatisierung der Commons durch »Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt«, wie Marx schreibt. »Arbeitskraft und Boden sind Ware geworden.«
Darüber, was Eigentum ist und wozu es verpflichtet, wird seit der Antike geschrieben und gestritten. Weitgehend einig war man sich viele Jahrhunderte lang, dass Eigentum nicht für sich steht, sondern danach beurteilt wird, ob es der »Idee des Guten« (Platon) dient, der Gesellschaft Nutzen stiftet und produktiv eingesetzt wird. Eigentum um des Eigentums Willen ist aus dieser Perspektive als Verschwendung anzusehen, weil es nicht aktiv genutzt wird. Im Artikel des Juristen Imran Smith ist über das römische Eigentumssystem zu lesen, dass es »did not allow a large landholder to waste potentially economically viable land« (Gardiner 1997). Zentrales Thema seines Beitrags ist die soziale Funktion des Eigentums, die er am Beispiel der Besetzung von Wohnraum oder Land aus juristischer Perspektive herausarbeitet.
›Društvena svojina‹, gesellschaftliches Eigentum, nannte man in Jugoslawien eine Form kollektiven Eigentums. Vermögenswerte wie Grundstücke, Wohnungen oder Unternehmen gehörten weder privaten Unternehmen noch dem Staat, sondern der Gesellschaft. Wie sich diese Eigentumsform im Alltag manifestierte, stellt die Architektin und Wissenschaftlerin Maria Minić anhand des Lebens im Belgrader Stadtteil Novi Beograd vor.
Erik Meinharter, Landschaftsplaner und dérive-Redakteur, knüpft für seinen Beitrag an einen Text an, den Klaus Selle vor vielen Jahren für dérive geschrieben hat. Darin hat er das »Eigentum im Öffentlichen« und das »Öffentliche im Eigentum‹« als die beiden Pole des gesellschaftlichen Diskurses bezeichnet, die das Verhältnis von Eigentum und öffentlichem Raum im Lichte unterschiedlicher Interessensphären und Besitzansprüche inklusive ihrer räumlichen Überlagerungen bestimmen. Meinharter plädiert in Folge dafür, aktive Schritte zu setzen, um öffentlich nutzbaren Stadtraum nachhaltig und rechtzeitig vor privaten Einzelinteressen zu sichern.
Die Soziologin Saskia von Dyk und der Stadtforscher Martin Kip wiederum nehmen die systematische Auseinandersetzung des französischen Soziologen Robert Castel im 19. Jahrhundert mit dem Verhältnis von sozialen Rechten und Eigentum als ihren Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung dieses Konzepts. Es geht ihnen in ihrem Beitrag darum, nicht nur Transferleistungen als soziales Eigentum zu werten, wie das Castel vorrangig getan hat, sondern auch die Bedeutung von Kollektiveigentum zu stärken und damit »mit Castel über Castel hinausdenken«. Mit Kollektiveigentum meinen sie die Nutzung von »Dienstleistungen und Infrastrukturen, die als öffentliches Eigentum organisiert sind«. Sie regen an, im Hinblick auf eine Demokratisierung der Gesellschaft, Co-Governance auszubauen und die Verfügungsberechtigungen über Kollektiveigentum im Sinne einer Vergesellschaftung auszuweiten.
Im Zentrum des ersten Beitrags im Magazinteil steht ein Forschungsprojekt im Auftrag der Stadt Wien: Gemeinwohleffekte von Partizipation in der Stadtentwicklung. Das Forschungsteam berichtet in seinem Beitrag über die Erfahrungen und Erkenntnisse bei der Analyse dreier Fallstudien zwischen Top-down und Bottom-up. So selbstverständlich Beteiligungsprozesse mittlerweile sind, so sehr sind altbekannte Probleme wie proklamierte Ergebnisoffenheit vs. vorab festgelegte Ziele, wohlüberlegte Methoden auf der einen und hochschwellige Formate auf der anderen Seite, ernst gemeintes Empowerment bei gleichzeitig weit verbreiteter Instrumentalisierung nach wie vor Bestandteil vieler Projekte.
Ein Beteiligungsprojekt in Hamburg, das dérive von Anfang an mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt hat, war dasjenige für die Neuen Essohäuser durch die Planbude. »Zehn Jahre nach dem aufwendigsten und gründlichsten Beteiligungsverfahren auf dem Planeten […] tritt die Bayerische Hausbau all das in die Tonne«, verlautbarte das Team der Planbude Anfang Oktober fassungslos. Trauer stand am Anfang und steht nun auch am Ende des Prozesses. 2014 galt die Trauer dem Abriss der Essohäuser, am Ende den fatalen Folgen von kleingeistiger Visionslosigkeit und biederer Pfennigfuchserei. Beide Male war der Megafonchor mit einer »fulminanten Performance« dabei. Liebe und Trauer lagen bei der jüngsten Trauerkundgebung in der Luft, schreibt Christoph Schäfer in seinem Text Der Megafonchor und das ausbleibende Wunder von Hamburg.
Für die Serie zur Kunst im öffentlichen Raum hat Ursula Maria Probst diesmal Gabriela López Dena, Kuratorin des Public Art Fund in New York, interviewt und über Themen wie Community-Outreach und Programmgestaltung gesprochen. Arbeiten der pakistanischen Architektin Yasmeen Lari waren 2023 in einer Ausstellung des Architekturzentrum Wien zu sehen, diesen Herbst war sie bei der Interventa Hallstatt zu Gast. Isabella Marboe hat sie dort getroffen und für dérive ein Porträt über sie verfasst, das sich vor allem mit dem Teil ihres Schaffens beschäftigt, das entstanden ist, nachdem die Stararchitektin ihr Büro geschlossen hatte. Heute ist sie nicht mehr für die Planung von Konzernzentralen bekannt, sondern für ihr System, Häuser mit lokalen Materialien, CO2-frei und kostengünstig im Selbstbau zu errichten.
Das mit oh betitelte Kunstinsert dieser Ausgabe stammt von der Schweizer Künstlerin Bianca Pedrina, der wir auch das Coverfoto verdanken. Mehr dazu im Text von Andreas Fogarasi.
Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.