Editorial dérive 51
Das Leben in den Städten ist für viele Menschen heute attraktiver als noch vor wenigen Jahren. Auch die Einwohnerzahlen von Wien nehmen kontinuierlich zu und übertreffen – so weit man hört – regelmäßig sämtliche Prognosen. Diese hohe Attraktivität gilt aber offenbar nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere. Synurbanisation nennt die Wissenschaft das Phänomen des Zuzugs von Tieren in die Stadt. Füchse im Prater, Dachse im Augarten, Biber auf der Donauinsel, Rehe am Zentralfriedhof und auch Wildschweine sind in Wien keine Seltenheit mehr, sondern Normalität. Die Tiere erfreuen sich in der Stadt am guten Nahrungsmittelangebot und fliehen vor den ländlichen Monokulturen – eine durchaus vernünftige Entscheidung. Zur Enttäuschung mancher antiurbaner Gruppierungen, welche die heile Welt noch immer außerhalb der Städte vermuten, sei an dieser Stelle der Hinweis gestattet, dass in der Stadt auch Tiere leben, die es auf dem Land gar nicht (mehr) gibt. Bei einer von der wunderbaren Linzer Initiative Schwemmland organisierten Führung durch das Hafenviertel erzählte der Linzer Stadtökologe Fritz Schwarz beispielsweise von der vor rund 60 Jahren eingewanderten Wechselkröte, die ausschließlich in ebensolchen Gewerbegebieten existiert, weil sie die wassergefüllten Mulden, die LKW in den unasphaltierten Straßen hinterlassen, so sehr schätzt. Freuden des Fortschritts!
Im Schwerpunkt dieser Ausgabe geht es – wie mittlerweile klar geworden sein dürfte – um Tiere in der Stadt. Die beiden SchwerpunktredakteurInnen Christina Linortner und Fahim Amir haben sich freilich nicht darauf beschränkt festzustellen, dass es Tiere in der Stadt gibt, sondern arbeiten heraus und analysieren, welche Rolle Tiere bzw. eigentlich darüber hinaus »nicht-menschliche Akteure« in der Stadtentwicklung spielen. Dabei geht es um historische Aspekte wie die Rolle der Tierschlachtung und der Schlachthöfe genauso wie um aktuelle Entwicklungen, die man unter dem Begriff Bio-InfoCom-Kapitalismus zusammenfassen könnte. Weitere Themen des Schwerpunkts sind das Verhältnis Kultur-Natur, die Geschichte des Experiments Biosphere 2 und die Auseinandersetzung mit einem der präsentesten und angefeindetsten Tiere in der Stadt: der Taube. Abgeschlossen wird der Schwerpunkt mit einer Erzählung von Alexander Nikolic über das Leben von Tieren und Menschen in einer Wohnsiedlung der serbischen Stadt Pancevo. Kommentierte Buchempfehlungen zum Schwerpunktthema gibt es auf unserer Website http://www.derive.at.
Die Wiener Stadtregierung hatte jüngst in einer Volksbefragung die Bevölkerung über die Abhaltung von Olympischen Spielen befragt, was von den Wienern und Wienerinnen vernünftigerweise klar abgelehnt wurde. Megaevents haben bekanntermaßen in den seltensten Fällen nachhaltig positive Auswirkungen auf Städte und ihre BewohnerInnen, wie sich an zahlreichen Beispielen nachweisen lässt (siehe dazu auch unser Schwerpunktheft dérive 20: Candidates and Hosts – Olympische Spiele und Stadtplanung oder den Artikel 1992–2012: 20 Jahre Architekturinszenierung in Barcelona von Rafael Ayuso Siart in dérive 48). Eine Fortsetzung dieser Auseinandersetzung mit ebendiesem Thema nehmen die KünstlerInnen Köbberling/Kaltwasser im Kunstinsert für diese Ausgabe von dérive unter dem Titel The Games are Open vor.
Im Magazinteil wirft André Bideau einen Blick auf die letzten Jahrzehnte der Züricher Stadtentwicklung und stellt zur aktuellen Situation fest, dass Zürich immer mehr »zum gestylten Opfer des eigenen Erfolgs« wird. Christian Haid beschreibt in seinem Artikel Contentious Informalities die Nutzung des Berliner Preußenparks durch die Berliner Thai-Community für Picknicks und die informelle Ökonomie, die sich daraus entwickelt hat. In Manfred Russos Serie Geschichte der Urbanität steht diesmal der Surrealismus und die Situationistische Internationale im Zentrum der Analyse. Bei den Rezensionen will ich besonders auf Iris Meders Sammelbesprechung Moderne-Projekte, vollendet und unvollendet hinweisen, die sich auf mehr als drei Seiten einer ganzen Reihe von aktuellen Publikationen über die Moderne in Ost und Süd-Osteuropa gewidmet hat. Dazu wunderbar passend bespricht Marián Potocárs den Bratislaver Atlas of Mass-Housing. Und weil Platz wie immer ein rares Gut darstellt, haben wir wieder einige Besprechungen auf unsere Website www.derive.at verschoben.
Obwohl man ja nur hoffen kann, dass sich der Winter bereits verzogen hat, wenn Sie dieses dérive in den Händen halten, freuen wir uns über die frostige Dokumentation der dérive wird 50-Präsentation diesen Januar: Ohne Rücksicht auf winterliche Temperaturen hatten wir aus diesem Anlass zur Teilnahme an einem öffentlichen Speakers Corner zum Thema Straße aufgerufen. Nachdem wir den Nachmittag mit Schneeschaufeln verbracht und kannenweise Heißgetränke produziert hatten, stand einer erfolgreichen Abhaltung der Veranstaltung auf dem Wiener Praterstern nichts mehr im Wege. Unser Dank gilt den neun wackeren RednerInnen(gruppen), die ihre Ideen, Forderungen und Ansichten zur Straße völlig unbeeindruckt von Temperaturen um die -5°C dem zwar frierenden, aber nichts desto trotz begeisterten Publikum kundtaten.
Wer – aus welchem Grund auch immer – nicht dabei sein konnte, kann sich nun ganz bequem alle Reden auf youtube ansehen.
Reclaim (Y)our Straße, meint Christoph Laimer
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.