Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Das Ruhrgebiet nimmt in vielen Aspekten eine Sonderstellung ein: »Nimmt man Kriterien wie die absolute Größe und Bevölkerung des Ballungsraums, seine politische und ökonomische Funktion und Bedeutung für das jeweilige Land insgesamt, seine administrative und ökonomische Struktur (monozentrisch oder polyzentrisch), sowie – bei polyzentrischen Räumen – die relative Größe der einzelnen Städte zueinander oder ihren Grad der Vernetzung untereinander, so ist das Ruhrgebiet unter den urbanen Ballungsräumen der Welt singulär.« (Jens Martin Gurr S. 23) Die Einzigartigkeit des Ruhrgebiets hat auch zur Folge, dass Begriffe wie »Urbanität« oder »Metropole«, die anderen Stadtregionen ohne große Diskussion angeheftet werden, lange gedreht und gewendet werden, um herauszufinden, ob sie zutreffend sind oder nicht. Eine Entwicklung, die das Ruhrgebiet seit vielen Jahren charakterisiert, ist der wirtschaftliche Niedergang der Schwerindustrie und des Bergbaus, welche die Region über Generationen prägten. Zumindest darin unterscheidet sich die Gegend nicht von vielen anderen urbanen Räumen westlicher Industriestaaten. Eines der bekanntesten Rezepte gegen den Abstieg solcher altindustrieller Wirtschaftsregionen schrieb Anfang der 1990er Jahre Charles Landry mit seinem Konzept der Creative City: Creative Cluster, Etablierung urbaner Kunstszenen, Leuchtturmprojekte, Tourismus, Musealisierung, Historisierung und Kulturalisierung lauten die Bausteine für den (vermeintlichen) Erfolg, die seither von Großbritannien aus in die Welt exportiert werden. Im Ruhrgebiet machte sich die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, die von 1989 bis 1999 stattfand, auf die Suche nach einer neuen Perspektive und nach tragfähigen Antworten für die Folgen der strukturellen Krise, die durch die wirtschaftliche Transformation ausgelöst worden war. Der Schwerpunkt dieser Ausgabe Urbanes Labor Ruhr wirft einerseits einen Blick zurück auf die zahlreichen (künstlerischen) Initiativen, Interventionen und Institutionen, die rund um diese Fragen und Entwicklungen aktiv waren und durchgeführt wurden. Andererseits präsentiert er aktuelle Konzepte und Maßnahmen, die sehr konkret auf die Situation des Ruhrgebiets eingehen und diese mit globalen Entwicklungen wie etwa dem Klimawandel oder Peak Oil verknüpfen. »Welche Ressourcen und Potenziale bietet diese Region, ihre Geschichte und Gegenwart? Wie kann eine eigenständige Entwicklung aussehen, die sich nicht darauf beschränkt, vermeintliche Erfolgsmodelle zu kopieren?«, sind zwei der Fragen, die von den Schwerpunktredakteurinnen Vanessa Weber und Gesa Ziemer von der HafenCity Universität Hamburg in ihrem Einleitungstext zum Schwerpunkt aufgeworfen werden. Wie der Schwerpunkttitel schon nahelegt, spielt der Begriff des »Labors« für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Zukunft des Ruhrgebiets eine wichtige Rolle. »Denn als Labor lässt sich sowohl das Konglomerat Stadt – oder wie im Fall des Ruhrgebiets die ›Region‹ – selbst begreifen, als auch die einzelnen kollektiven, oft komplizenhaften Zusammenschlüsse, deren AkteurInnen gemeinsam die schier unzähligen Aspekte des Städtischen erforschen.« (Weber, Ziemer) Dabei sind sich Weber und Ziemer der Konjunktur des Begriffs sehr bewusst, was in ihrer kulturwissenschaftlichen Forschung klar thematisiert wird. Die Rolle der Kunst in und für die Stadtentwicklung bildet auch den Rahmen für das unter der Leitung von Gesa Ziemer 2013 gestartete Forschungsprojekt »art&paste – Kunst und Nachhaltigkeit« in Kooperation mit der Kunstinstitution Urbane Künste Ruhr. Die Forschungen zum dérive-Schwerpunkt Urbanes Labor Ruhr bilden einen Seitenstrang des Forschungsprojekts. Kunst und Urbanismus waren auch für die Situationistische Internationale (SI) ein großes Thema. Die ProtagonistInnen der SI waren Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre freundschaftlich mit Henri Lefebvre verbunden und der daraus folgende Austausch ist nach Meinung von Lefebvre-Experten mit dafür verantwortlich, dass sich der Theoretiker in späteren Jahren so intensiv mit der Rolle der Stadt beschäftigt hat. 
Da steht es doch einmal gut an, Genaueres über die Beziehung zwischen Lefebvre und der SI in einem Interview aus 1983 nachzulesen, das wir mit Finding a larger theory of the city übertitelt haben. Lefebvre erzählt in dem Interview auch über die Hintergründe des Streits mit Guy Debord, der die beiden intellektuellen Schwergewichte fortan getrennte Wege gehen ließ. Auch in der aktuellen Folge der Geschichte der Urbanität geht es um Henri Lefebvre: Manfred Russo widmet sich diesmal vorrangig Lefebvres Theorie der moments – in Abgrenzung oder Ergänzung zum Begriff der Situation und ihrer Konstruktion bei der SI. Obwohl man sich ja gerne weiseren Themen zuwenden würde, lässt uns die Smart City seit der Veröffentlichung der Schwerpunktausgabe im Sommer 2014 nicht mehr los. Bedauerlicherweise bestätigen sich nämlich die in dérive N°56 geäußerten Kritikpunkte leider immer wieder aufs Neue. Einem kaum an Dreistigkeit zu überbietenden Aspekt der Thematik widmet sich Elke Rauth in ihrem Beitrag »Smart Tales of the City«: Dem derzeit global stattfindenden Rollout der Smart Meter, die uns als große Ressourcenschoner für viel Geld verkauft werden sollen. dérive-Redakteur Thomas Ballhausen hat ein neues Buch mit Erzählungen – In dunklen Gegenden – veröffentlicht, wann und wie auch immer der Mann das macht. Ausschnitte daraus gibt es im Magazinteil. Das Kunstinsert hat diesmal Tanja Boukal für dérive gestaltet. Sie setzt sich in ihrer Arbeit mit dem eklatanten Widerspruch zwischen der europäischen Selbstwahrnehmung und -inszenierung als Kontinent freier BürgerInnen auseinander, der besonderen Wert auf Menschenrechte legt, und seiner Abschottungspolitik, die seit Jahren Tausende Tote im Mittelmeer zur Folge hat. Und zum Schluss gibt es noch eine Nachschau des von dérive veranstalteten Stadtforschungsfestivals ur5anize!, für alle, die es nicht nach Wien geschafft haben. Vielleicht sehen wir uns ja beim nächsten Festival im Oktober 2015.

Viel Klingeling und jede Menge Kekse wünschen, Christoph Laimer und Elke Rauth


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